Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Mund. »Dich habe ich als Erste kennengelernt, dich liebe ich schon viel länger als die anderen.«
Aber es war nicht genug. Sie war eine lebende Lüge, und das wollte sie nicht länger sein.
Im Laufe der darauffolgenden Monate hatte ihr in einundzwanzig Jahren entstandenes Leben sich systematisch aufgelöst. Sie hatte ihre Stelle in Mr Fitzsimmons’ Zeitungsladen aufgegeben und angefangen, als Platzanweiserin im neuen Plaza-Kino zu arbeiten. Sie hatte ihre Kleider in zwei kleine Koffer gepackt und war zu der Freundin einer Freundin gezogen. Und sie hatte ihre Verlobung mit Danny gelöst. Sie hatte sich nicht sofort von ihm getrennt, dazu hatte ihr der Mut gefehlt, sondern die Beziehung über mehrere Monate hinweg immer mehr abkühlen lassen, war ihm weitgehend aus dem Weg gegangen und hatte sich, wenn sie sich doch getroffen hatten, abweisend verhalten. Ihre Feigheit hatte ihren Selbsthass noch verstärkt und sie in dem Verdacht bestätigt, dass ihr alles, was passierte, recht geschah und sie nichts Besseres verdient hatte.
Sie hatte lange gebraucht, um die Trennung von Danny zu überwinden, sein wettergegerbtes Gesicht zu vergessen, seine ehrlichen Augen, sein unbeschwertes Lachen. Natürlich hatte er wissen wollen, warum, aber sie hatte es nicht über sich gebracht, es ihm zu erzählen. Es gab einfach keine Worte, mit denen sie ihm hätte erklären können, dass die Frau, die er liebte, die er zu heiraten gehofft hatte, nicht mehr existierte. Wie konnte sie von ihm erwarten, dass er sie weiterhin wertschätzte, dass er sie immer noch lieben würde, wenn er erfuhr, dass sie ein unerwünschtes Kind war? Dass ihre eigene Familie sie ausgesetzt hatte?
Das Taxi bog in die Albion Street ein und fuhr nach Osten in Richtung Flughafen. »Wo soll’s denn hingehen?«, fragte der Fahrer und schaute sie im Rückspiegel an.
»Nach London.«
»Haben Sie dort Verwandte?«
Nell schaute aus dem schmuddeligen Fenster. »Ja«, sagte sie. Hoffentlich.
Nicht einmal Lesley hatte sie von ihrer geplanten Reise erzählt. Sie hatte es in Erwägung gezogen, sich vorgestellt, wie sie den Telefonhörer aufnehmen und die Nummer ihrer Tochter wählen würde - die neueste in einer Liste, die sie an den Rand ihres Adressbuchs gekritzelt hatte -, aber dann hatte sie die Idee immer wieder verworfen. Wahrscheinlich würde sie sowieso längst wieder zurück sein, ehe Lesley auffiel, dass sie überhaupt verreist war.
Nell brauchte sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, was sie bei Lesley falsch gemacht hatte, sie wusste es nur allzu gut. Sie waren von Anfang an nicht miteinander zurechtgekommen. Die Geburt war ein Schock gewesen, die gewaltsame Ankunft eines strampelnden, schreienden Energiebündels. Nacht für Nacht hatte Nell in dem Krankenhaus in Amerika wach gelegen und darauf gewartet, dass sie endlich die innige Zuneigung zu ihrem Kind empfinden würde, von der die Leute immer redeten, die Gewissheit, dass sie unwiderruflich und unzertrennlich mit dieser
kleinen Person verbunden sein würde, die in ihr gewachsen war. Aber das Gefühl wollte sich einfach nicht einstellen. Egal, wie sehr sie sich bemühte, egal, wie sehr sie es herbeisehnte, Nell fühlte sich getrennt von der kleinen Wildkatze, die an ihren Brüsten saugte und riss und kratzte und immer mehr haben wollte, als Nell zu geben vermochte.
Al dagegen war völlig hingerissen gewesen. Ihm schien gar nicht aufzufallen, dass das Baby eine furchtbare Nervensäge war. Im Gegensatz zu den meisten Männern seiner Generation riss er sich geradezu darum, seine Tochter herumzutragen, sie in den Armen zu wiegen und mit ihr auf den breiten Straßen von Chicago spazieren zu gehen. Manchmal schaute Nell ihm mit einem höflichen Lächeln zu, wie er sein kleines Mädchen liebestrunken anhimmelte, und wenn er sich ihr dann mit verklärtem Blick zuwandte, spiegelte sich ihre eigene Leere in seinen Augen.
Lesley war als Wildfang auf die Welt gekommen, aber nach Als Tod im Jahr 1961 war es mit ihrer Zuversicht vorbei. Als Nell ihr die Nachricht überbrachte, sah sie, wie sich ein Schleier der Leere über Lesleys Augen legte. Im Lauf der folgenden Monate hatte sich Lesley, die Nell von Anfang an ein Rätsel gewesen war, immer tiefer in ihren Kokon aus jugendlichem Trotz zurückgezogen und ihre Überzeugung kultiviert, dass sie ihre Mutter verachtete und nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte.
Das war natürlich verständlich, wenn nicht sogar akzeptabel - schließlich war sie vierzehn,
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