Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
ein sehr sensibles Alter, und ihr Vater war ihr Ein und Alles gewesen. Die Rückkehr nach Australien hatte auch nicht zur Verbesserung der Situation beigetragen, wie Nell im Nachhinein klar geworden war. Aber Nell war keine Frau, die wegen rückblickend gewonnener Erkenntnisse in Schuldgefühlen versank. Sie hatte getan, was ihr damals als das Beste erschienen war: Sie war keine Amerikanerin, Als Mutter war einige Jahre zuvor gestorben, und im Grunde genommen waren sie völlig allein. Fremde in einem fremden Land.
Als Lesley mit siebzehn von zu Hause weggegangen und quer durch Australien nach Sydney getrampt war, hatte Nell sie erleichtert ziehen lassen. Wenn Lesley erst einmal aus dem Haus war, hatte sie sich gesagt, würde sie vielleicht endlich den schwarzen Schatten loswerden, der ihr seit siebzehn Jahren im Nacken saß und ihr einflüsterte, natürlich sei sie eine Rabenmutter, sie brauche sich nicht zu wundern, dass ihre Tochter sie nicht ausstehen könne, das sei nun mal ihre Natur, Kinder habe sie sowieso nicht verdient. Haim und Lil mochten sie noch so liebevoll großgezogen haben, Nell stammte aus einer Linie schlechter Mütter, die mir nichts dir nichts ihre Kinder im Stich ließen.
Und am Ende war alles gar nicht so schlimm gekommen. Inzwischen, zwölf Jahre später, wohnte Lesley mit ihrem neuesten Kerl und ihrer kleinen Tochter Cassandra ganz in der Nähe an der Gold Coast. Nell hatte ihre Enkeltochter bisher nur ein paarmal gesehen. Der Himmel wusste, wer ihr Vater war, und Nell hütete sich nachzufragen. Auf jeden Fall musste er einigermaßen Grips im Kopf gehabt haben, denn Cassandra hatte nicht viel von der Zügellosigkeit ihrer Mutter geerbt. Eher das Gegenteil war der Fall. Cassandra war ein Kind, dessen Seele vorzeitig gealtert zu sein schien, still, geduldig, nachdenklich, und sie hielt zu Lesley - ein wunderbares Kind, das Nell an eine der Nymphen von Waterhouse erinnerte. Die Kleine besaß eine tiefe Ernsthaftigkeit, traurige blaue Augen, deren äußere Winkel ein wenig nach unten gezogen waren, und einen hübschen Mund, der ausgesprochen schön sein könnte, wenn sie nur einmal unbefangen lachen würde.
Das schwarz-weiße Taxi hielt vor dem Flughafen Qantas, und nachdem Nell den Fahrer bezahlt hatte, schob sie alle Gedanken an Lesley und Cassandra beiseite.
Sie hatte sich oft genug in ihrem Leben von Reue überwältigen lassen und war in Unwahrheiten und Ungewissheiten ertrunken. Jetzt war es an der Zeit, Antworten zu finden und in Erfahrung
zu bringen, wer sie wirklich war. Sie stieg aus dem Taxi und schaute zu einem Flugzeug auf, das gerade über den Airport hinwegdröhnte.
»Guten Flug«, sagte der Taxifahrer, als er Nells Koffer auf einen Trolley stellte.
»Ja, danke.«
Es würde ein guter Flug werden, davon war sie überzeugt. Endlich waren die Antworten greifbar nahe. Nachdem sie ein Leben lang als Schatten existiert hatte, würde sie nun ein Mensch aus Fleisch und Blut werden.
Der kleine weiße Koffer war der Schlüssel gewesen, oder vielmehr dessen Inhalt. Das Märchenbuch, das 1913 in London herausgegeben worden war, das Bild von der Frau auf dem Deckblatt. Nell hatte sie sofort erkannt. Ein uralter Teil ihres Gehirns hatte die Namen ausgespuckt, noch ehe ihr Verstand sich hatte einschalten können, Namen, von denen sie geglaubt hatte, dass sie zu einem Spiel aus ihrer Kindheit gehörten. Die Dame. Die Autorin. Und sie wusste auch, dass es die Dame tatsächlich gegeben hatte: Eliza Makepeace.
Ihr erster Gedanke war natürlich gewesen, dass diese Eliza Makepeace ihre Mutter war. Sie war in die Bibliothek gegangen, um nachzuforschen, und hatte mit geballten Fäusten dagesessen und gewartet, hatte gehofft, dass die Bibliothekarin ihr verkünden würde, dass Eliza Makepeace ein Kind verloren und bis an ihr Lebensende nach ihrer vermissten Tochter gesucht hatte. Aber das wäre eine allzu einfache Erklärung gewesen. Die Bibliothekarin hatte ziemlich wenig über Eliza herausgefunden, aber immerhin so viel, dass die Schriftstellerin kinderlos gewesen war.
Auch die Passagierlisten hatten nicht viel ergeben. Nell hatte jedes Schiff überprüft, das im Jahr 1913 von London nach Maryborough gefahren war, aber auf keiner Liste war der Name Eliza
Makepeace aufgetaucht. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass es sich bei dem Namen Eliza Makepeace um ein Pseudonym handelte und dass die Autorin eine Schiffspassage unter ihrem richtigen oder einem erfundenen Namen gebucht
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