Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
ein Schiff geraten war, möglicherweise auf einen Dampfer mit Ziel Australien. Er suche das Mädchen im Auftrag von dessen Angehörigen.
Hamish stand an seinem Schreibtisch und hatte das Gefühl, als würden seine Beine unter ihm nachgeben. Der Augenblick, den er die ganze Zeit gefürchtet hatte - aber mit dem er gleichzeitig fest gerechnet hatte -, war gekommen. Denn im Gegensatz zu dem, was Lil glaubte, gingen Kinder, vor allem solche wie Nell, nicht einfach verloren, ohne dass jemand Alarm schlug. Er setzte sich in seinen Sessel, konzentrierte sich auf seine Atmung und warf kurz einen Blick aus dem Fenster. Plötzlich kam er sich irgendwie verdächtig vor, als würde ein unsichtbarer Feind ihn beobachten.
Er fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht und massierte sich den Nacken. Was, zum Teufel, sollte er bloß tun? Es war nur eine Frage der Zeit, bis seine Kollegen zur Arbeit kommen und den
Brief vorfinden würden. Zwar war er der Einzige, der Nell allein am Hafen hatte sitzen sehen, aber das würde ihnen nicht lange nützen. Es würde sich schon bald in der Stadt herumsprechen - alles sprach sich herum -, und früher oder später würde irgendwer zwei und zwei zusammenzählen. Irgendwann würde jemandem auffallen, dass das kleine Mädchen, das bei Hamish und Lil in der Queen Street wohnte und so eine ungewöhnliche Art zu sprechen hatte, verdammt viel Ähnlichkeit mit dem vermissten Kind hatte.
Nein, er konnte nicht zulassen, dass jemand den Brief zu Gesicht bekam. Hamish bemerkte, dass seine Hand ein wenig zitterte. Er faltete den Brief säuberlich einmal, dann noch einmal und steckte ihn in seine Jackentasche. Damit war das Problem fürs Erste gelöst.
Er setzte sich. So, jetzt fühlte er sich schon wieder besser. Er brauchte nur ein bisschen Zeit, um nachzudenken und sich zu überlegen, wie er Lil beibringen würde, dass es an der Zeit war, Nell zurückzugeben. Sicher, der Umzug nach Brisbane war längst geplant. Lil hatte ihrem Vermieter bereits angekündigt, dass sie ausziehen würden, sie hatte angefangen, ihre Habseligkeiten zu packen und in der Stadt herumerzählt, dass Haim in Brisbane eine gute Stelle angeboten worden war und sie dumm sein müssten, diese Chance nicht wahrzunehmen.
Aber Pläne konnten natürlich geändert werden, sie mussten manchmal geändert werden. Denn jetzt wussten sie schließlich, dass jemand nach Nell suchte, und das änderte alles, oder nicht?
Er wusste genau, was Lil zu dem Brief sagen würde: Diese Leute hatten Nell nicht verdient, dieser Mann, Henry Mansell, der sie jetzt auf einmal als vermisst angab. Sie würde Haim anflehen, ihm ins Gewissen reden, dass sie Nell unmöglich jemandem ausliefern könnten, der so verantwortungslos war. Aber Hamish würde ihr entgegenhalten, dass sie beide das nicht zu entscheiden hatten, dass Nell nicht ihr Kind war und nie gewesen war,
dass sie zu einer anderen Familie gehörte. In Wirklichkeit hieß sie ja nicht einmal Nell, und sie hatte ein Recht auf ihren eigenen Namen.
Als Hamish am Nachmittag die Treppe zur Haustür hochstieg, blieb er einen Augenblick stehen, um sich zu sammeln. Er atmete den beißenden Rauch ein, der aus dem Kamin kam, ein angenehmer Geruch, denn er kam von dem Feuer, das sein Heim wärmte. Eine unsichtbare Kraft schien ihn daran zu hindern, weiterzugehen. Er hatte das vage Gefühl, vor einer Schwelle zu stehen, deren Überschreiten alles ändern würde.
Er holte tief Luft und öffnete die Tür. Seine beiden Mädchen drehten sich um und schauten ihn an. Sie saßen am Feuer, Nell auf Lils Schoß. Ihr langes, rotes Haar war nass, und Lil war gerade dabei, es auszukämmen.
»Pa!«, rief Nell aufgeregt, die Wangen von der Wärme gerötet.
Lil lächelte ihn über den Kopf der Kleinen hinweg an. Dieses Lächeln war schon immer sein Untergang gewesen. Von dem Tag an, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, wie sie vor dem Bootsschuppen ihres Vaters die Taue aufrollte. Wie lange war es her, dass er dieses Lächeln zuletzt gesehen hatte? Das war vor den Babys gewesen, da war er sich sicher. Vor ihren Babys, die einfach nicht geboren werden wollten.
Hamish erwiderte Lils Lächeln, stellte seine Aktentasche ab, langte in seine Jacke, in die der Brief unaufhaltsam ein Loch brannte, befühlte das glatte Papier. Dann trat er an den Herd, auf dem ein großer Topf mit Fischsuppe vor sich hin dampfte. »Mm, riecht das gut.« Verdammter Frosch in seinem Hals.
»Das Rezept ist von meiner Mutter«, sagte Lil, während sie
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