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Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden

Titel: Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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dass ihre Liebe zur Kunst von diesem Buch ausgelöst worden war. Sie hatte es aufgeschlagen und war in die Welt der wundervollen, Furcht einflößenden,
zauberhaften Bilder versunken. Damals hatte sie sich gefragt, wie es sein mochte, den engen Grenzen der Worte zu entkommen und sich mithilfe einer so frei fließenden Sprache ausdrücken zu können.
    Und später, als sie älter war, hatte sie es eine Zeit lang erfahren: den alchemistischen Sog des Bleistifts, das glückselige Gefühl, wenn die Zeit jede Bedeutung verlor, während sie über ihren Zeichenblock gebeugt saß. Ihre Liebe zur Kunst hatte dazu geführt, dass sie zum Studium nach Melbourne gezogen war, hatte dazu geführt, dass sie Nicholas geheiratet hatte, und zu allem anderen, was danach gekommen war. Merkwürdig der Gedanke, dass ihr ganzes Leben anders verlaufen wäre, wenn sie den Koffer nie zu Gesicht bekommen hätte, wenn sie nicht den unwiderstehlichen Drang verspürt hätte, ihn zu öffnen und seinen Inhalt in Augenschein zu nehmen …
    Cassandra hielt abrupt inne. Warum war sie nicht eher darauf gekommen? Plötzlich wusste sie genau, was sie zu tun hatte, wo sie suchen musste. Mit einem Mal war ihr sonnenklar, wo sie die nötigen Hinweise finden würde, die ihr Aufschluss über Nells geheimnisvolle Herkunft geben konnten.
     
     
     
    Womöglich hatte Nell den Koffer längst weggeworfen, schoss es Cassandra durch den Kopf, doch dann verwarf sie den Gedanken entschieden. Erstens war ihre Großmutter eine Antiquitätenhändlerin gewesen, eine leidenschaftliche Sammlerin, ein menschlicher Laubenvogel. Etwas, das alt und wertvoll war, einfach wegzuwerfen, hätte überhaupt nicht zu ihr gepasst.
    Zweitens, und das war viel wichtiger: Wenn es stimmte, was die Tanten erzählt hatten, dann stellte der Koffer weit mehr als nur eine Antiquität dar - er war ein Anker, Nells einzige Verbindung zu ihrer Vergangenheit. Cassandra kannte die Bedeutung eines Ankers, sie wusste nur zu gut, was mit einem Menschen
passierte, wenn diese Verbindung zur Vergangenheit gekappt wurde. Sie selbst hatte schon zweimal ihren Anker verloren. Das erste Mal als Zehnjährige, als Lesley sie im Stich gelassen hatte, und das zweite Mal als junge Frau (war das wirklich erst zehn Jahre her?), als ihr Leben sich im Bruchteil einer Sekunde von Grund auf geändert hatte und sie erneut auf einem Meer ohne Horizont ausgesetzt worden war.
    Als sie später noch einmal auf jene Ereignisse zurückblickte, wurde ihr bewusst, dass es der Koffer gewesen war, der den Weg zu ihr gefunden hatte, genau wie beim ersten Mal. Dass er auf sie gewartet hatte und sich bemerkbar gemacht hätte, egal, ob sie nach ihm gesucht hätte oder nicht.
    Nachdem sie fast die ganze Nacht damit zugebracht hatte, Nells vollgestopfte Zimmer zu durchsuchen, und sich trotz ihrer besten Absichten immer wieder von dem einen oder anderen Gegenstand hatte ablenken lassen, war sie unglaublich erschöpft. Und zwar nicht nur körperlich, sondern auch psychisch. Das Wochenende hatte seinen Tribut gefordert. Wie in einem Märchen kam die Müdigkeit ganz plötzlich über sie, wie eine magische Sehnsucht, sich dem Schlaf hinzugeben.
    Anstatt nach unten in ihr Zimmer zu gehen, schlüpfte sie vollständig angezogen unter Nells Bettdecke und ließ ihren Kopf auf das weiche Kopfkissen sinken. Der Geruch war atemberaubend vertraut - Lavendelpuder, Silberpolitur und Palmoliv-Waschmittel -, und es fühlte sich fast so an, als würde sie ihren Kopf an Nells Brust drücken.
    Sie schlief wie ein Stein, tief und traumlos. Und als sie am nächsten Morgen aufwachte, war ihr, als hätte sie viel länger als eine Nacht geschlafen.
    Helles Sonnenlicht fiel durch den Spalt zwischen den Vorhängen ins Zimmer - wie das Licht eines Leuchtturms -, und sie beobachtete vom Bett aus, wie die Staubkörnchen in dem Lichtstrahl tanzten. Sie hätte eine Hand ausstrecken und ein paar
davon mit den Fingerspitzen einfangen können, doch sie tat es nicht. Stattdessen folgte ihr Blick dem Lichtstrahl bis zu dem Punkt, an dem er endete, einem Punkt hoch oben auf dem Kleiderschrank, dessen Türen sich über Nacht einen Spaltbreit geöffnet hatten. Dort oben auf dem obersten Fachboden, unter lauter mit alten Kleidungsstücken vollgestopften Plastiktüten für das Rote Kreuz, lag ein alter, weißer Koffer.

11 Indischer Ozean vierhundert Meilen jenseits des Kaps der Guten Hoffnung, 1913
    Die Reise nach Amerika war sehr, sehr weit. Papa hatte oft von dem Land gesprochen

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