Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
und davon, dass es noch weiter weg war als Arabien und dass man hundert Tage und Nächte brauchte, um dorthin zu gelangen. Vor wie vielen Tagen sie aufgebrochen waren, wusste das kleine Mädchen nicht, aber sie befanden sich schon ziemlich lange auf dem Schiff. So lange, dass das Mädchen sich inzwischen sogar an das nie endende Schaukeln gewöhnt hatte. Seefest werden nannte man das. Solche Sachen standen in dem Buch mit den Geschichten von Moby Dick.
An Moby Dick zu denken, machte das kleine Mädchen sehr traurig. Dann musste es nämlich an Papa denken, an die Geschichten über den riesigen Wal, die er jeden Abend vorgelesen hatte, an die Bilder in seinem Arbeitszimmer, Bilder von dunklen Meeren und großen Schiffen, die er gezeichnet hatte. Solche Bilder hießen Illustrationen, ein langes Wort, das dem kleinen Mädchen gefiel, und eines Tage würden sie vielleicht in einem Buch abgedruckt werden, einem richtigen Buch, das andere Kinder lesen würden. Denn Papa fertigte Zeichnungen für Kinderbücher an. Einmal zumindest hatte er das getan. Außerdem malte er Bilder
von Leuten, aber die gefielen dem kleinen Mädchen nicht, es mochte die Augen nicht, die einen dauernd beobachteten, wenn man sich im Zimmer aufhielt.
Das Kinn des kleinen Mädchens begann zu zittern, wie manchmal, wenn es an Mama und Papa dachte, und es biss sich auf die Lippe. Anfangs hatte es ganz viel geweint, hatte gar nicht mehr aufhören können, weil seine Eltern ihm so fehlten. Aber inzwischen weinte das Mädchen kaum noch, schon gar nicht vor anderen Kindern. Am Ende dachten sie noch, es wäre zu klein, um mit ihnen zu spielen, und was sollte dann werden? Außerdem würden Mama und Papa bald wieder bei ihm sein. Bestimmt würden sie schon sehnsüchtig warten, wenn das Schiff in Amerika eintraf. Ob die Autorin auch dort sein würde?
Das kleine Mädchen runzelte die Stirn. In der ganzen Zeit, die es gebraucht hatte, um seefest zu werden, war die Autorin nicht zurückgekommen. Das verwirrte das Mädchen, denn die Autorin hatte ihm sehr strenge Anweisungen gegeben, wie es sich verhalten sollte, und ihm erklärt, dass sie unter allen Umständen zusammenbleiben mussten, egal, was passierte. Vielleicht versteckte sie sich ja. Vielleicht gehörte das alles zu einem Spiel.
Das kleine Mädchen war sich nicht sicher. Es war nur dankbar, dass es an dem ersten Morgen auf dem Schiff Will und Sally kennengelernt hatte, sonst hätte es gar nicht gewusst, wo es schlafen oder etwas zu essen bekommen konnte. Will und Sally und deren Geschwister - es waren so viele, dass das kleine Mädchen aufgehört hatte zu zählen - kannten sich aus, wussten, wo man etwas zu essen herbekam. Sie hatten dem Mädchen verschiedene Stellen auf dem Schiff gezeigt, wo es immer eine Extraportion Pökelfleisch gab. (Das Zeug schmeckte nicht besonders, aber der Junge hatte nur gelacht und gesagt, es sei vielleicht nicht das, was das Mädchen gewöhnt war, aber für ein Hundeleben reiche es allemal.) Sie waren alle freundlich, meistens jedenfalls. Nur einmal waren sie böse geworden, und das war, als das Mädchen sich
standhaft geweigert hatte, ihnen seinen Namen zu nennen. Aber das kleine Mädchen kannte sich mit Spielen aus, wusste, dass man sich an die Regeln halten musste, und die Autorin hatte ihr erklärt, dass das die allerwichtigste Regel war.
Will und seine Familie hatten mehrere Kojen auf einem der unteren Decks, wo sie zusammen mit vielen anderen Männern, Frauen und Kindern untergebracht waren, so viele, wie das Mädchen noch nie auf einmal gesehen hatte. Die Kinder hatten ihre Mutter bei sich, aber sie nannten sie nur »Ma«, und sie war ganz anders als die Mama des kleinen Mädchens, sie hatte überhaupt kein hübsches Gesicht und auch nicht so schönes dunkles Haar wie Mama, das Poppy ihr jeden Morgen zu einer kunstvollen Frisur hochsteckte. »Ma« war eher wie die Frauen, die das kleine Mädchen manchmal von der Kutsche aus gesehen hatte, wenn sie durch das Dorf gefahren waren, Frauen in zerrissenen Röcken und verschlissenen Schuhen und mit Händen, die aussahen wie die alten Handschuhe, die Davies bei der Gartenarbeit trug.
Als Will das kleine Mädchen zum ersten Mal mit aufs Unterdeck genommen hatte, hatte Ma auf einer der unteren Kojen gesessen und ein Baby gestillt, während ein anderes schreiend neben ihr gelegen hatte.
»Wer ist das denn?«, fragte Ma.
»Sie will mir ihren Namen nicht sagen. Sie sagt, sie wartet auf jemand, der gesagt hat, sie soll sich
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