Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
hast.«
Es verschlug Cassandra regelrecht den Atem, wie Ben ihr Leben und ihre Leidenschaften so eindeutig der Vergangenheit zuordnete, und es gelang ihr nur mit Mühe, ihr Lächeln beizubehalten.
»Das Anwesen, auf dem Nells Haus steht, gehörte früher der Familie Mountrachet.«
Der Name sagte Cassandra nichts, und sie schüttelte den Kopf.
Ben hob eine Braue. »Die Tochter, Rose, hat einen gewissen Nathaniel Walker geheiratet.«
Cassandra runzelte die Stirn. »Maler … War das nicht ein Amerikaner?«
»Ganz genau. Hat hauptsächlich Porträts gemalt, du kennst das ja. Lady Soundso und ihre sechs Lieblingspudel. Ruby sagt, 1910, kurz vor dessen Tod, hat er sogar König Edward porträtiert. Das war der Höhepunkt von Walkers Karriere, würde ich sagen, aber Ruby war nicht besonders von ihm beeindruckt. Sie meinte, Porträts waren eigentlich nicht seine Stärke, sie seien ziemlich leblos.«
»Es ist schon eine Weile her, seit ich …«
»Sie findet seine Zeichnungen wesentlich besser, aber das ist wieder mal typisch Ruby, die ist schon immer gern gegen den Strom der allgemeinen Meinung geschwommen.«
»Zeichnungen?«
»Illustrationen für Bücher und Zeitschriften. Alle in Schwarz-Weiß.«
Cassandra zuckte zusammen. »Die Sammlung mit den ländlichen Szenen.«
Ben schüttelte den Kopf und hob die Schultern.
»Ach, Ben, die Zeichnungen waren - sind großartig. So unglaublich detailliert.« Es war so lange her, dass sie sich mit Kunstgeschichte beschäftigt hatte, und sie wunderte sich darüber, wie präsent ihr all diese Dinge mit einem Mal wieder waren. Seltsam, wie etwas, das einmal einen so großen Raum in ihrem Leben eingenommen hatte, dass sie geglaubt hatte, nicht ohne es leben zu können - Jahre des Studiums, ein geliebter Beruf -, völlig aus ihrem Alltag hatte verschwinden können.
»Nathaniel Walker wurde kurz in einem Seminar über Aubrey Beardsley und seine Zeitgenossen behandelt, an dem ich mal teilgenommen habe«, sagte sie. »Soweit ich mich erinnere, war er ziemlich umstritten, aber ich weiß nicht mehr genau, warum.«
»Das hat Ruby auch gesagt, du wirst dich gut mit ihr verstehen. Als ich seinen Namen erwähnte, war sie plötzlich ganz aufgeregt. Sie meinte, sie hätte ein paar von seinen Illustrationen in ihrer neuen Ausstellung im Museum, offenbar sind die sehr selten.«
»Er hat nicht viele gemacht«, sagte Cassandra, die sich auf einmal wieder erinnerte. »Ich nehme an, er hatte zu viel mit den Porträts zu tun, die Illustrationen waren eher ein Hobby. Aber die, die er angefertigt hat, wurden sehr geschätzt.« Sie richtete sich auf. »Ich glaube, wir haben sogar eins von seinen Bildern hier«, sagte sie. »In einem von Nells Büchern.« Sie stieg auf einen umgedrehten
Milchkasten und fuhr mit dem Zeigefinger an den Buchrücken auf einem Regal entlang. An einem weinroten Buch mit verblasster Goldprägung hielt sie an.
Immer noch auf dem Milchkasten stehend, nahm sie das Buch aus dem Regal, schlug es auf und blätterte vorsichtig die ersten Seiten um. »Hier ist es.« Ohne den Blick von dem Buch abzuwenden, stieg sie von der Kiste. » Die Klage des Fuchses .«
Ben trat neben sie und rückte seine Brille zurecht. »Sehr aufwendig, nicht wahr? Nicht gerade mein Geschmack, aber es ist zweifellos Kunst. Ich kann verstehen, was du daran bewundernswert findest.«
»Es ist wunderschön und irgendwie traurig.«
Ben beugte sich tiefer über das Buch. »Traurig?«
»Voller Melancholie und Sehnsucht. Besser kann ich es nicht erklären, es ist etwas im Gesicht des Fuchses, es hat so etwas Entrücktes.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann’s nicht erklären.«
Ben drückte ihren Arm, murmelte etwas davon, dass er ihr zum Mittagessen ein Sandwich mitbringen würde, dann war er verschwunden und auf dem Weg zu seinem Stand, oder eher zu dem Kunden an seinem Stand, der gerade einen Waterford-Kronleuchter zum Klimpern brachte.
Cassandra betrachtete die Zeichnung und fragte sich, wieso sie sich so sicher war, dass das Gesicht des Fuchses Trauer ausdrückte. Natürlich lag es an der ausgefeilten Technik des Künstlers, an seiner Fähigkeit, durch die präzise Anordnung feiner, schwarzer Linien so komplexe Gefühlsregungen zum Ausdruck zu bringen …
Sie schürzte die Lippen. Die Zeichnung erinnerte sie an den Tag, an dem sie Nells Märchenbuch entdeckt hatte, während ihre Mutter eine Etage über ihr sich darauf vorbereitete, sie allein zurückzulassen. Im Rückblick war Cassandra klar,
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