Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
schwitzte, und sein Atem fühlte sich heiß an, wenn er die Lippen streifte.
»Kommt«, sagte Will, der genug von der Musik hatte. »Gehen wir rauf und halten Ausschau nach Land.«
Im nächsten Augenblick waren alle Kinder auf den Beinen. Das kleine Mädchen richtete sich mühsam auf und versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Will und Sally und die anderen lachten und schnatterten durcheinander. Das kleine Mädchen versuchte zu verstehen, was die Kinder sagten, aber ihm zitterten die Beine, und etwas in seinen Ohren dröhnte und rauschte.
Auf einmal war Wills Gesicht ganz nah, und seine Stimme klang sehr laut. »Was ist los? Geht’s dir nicht gut?«
Das Mädchen öffnete den Mund, um etwas zu antworten, doch da gaben die Beine unter ihm nach, und es fiel zu Boden. Das Letzte, was es sah, ehe sein Kopf auf der hölzernen Stufe aufschlug, war der helle Vollmond, der oben am Himmel leuchtete.
Das kleine Mädchen öffnete die Augen. Ein Mann stand über ihm. Er sah sehr ernst aus, und seine grauen Augen betrachteten das Mädchen kritisch. Sein Gesichtsausdruck änderte sich auch nicht, als er näher kam, ein kleines, flaches Stäbchen aus seiner Hemdtasche zog und sagte: »Mund auf.«
Ehe das Mädchen wusste, wie ihm geschah, drückte der Mann ihm mit dem Stäbchen die Zunge nach unten und schaute ihm in den Mund.
»Ja«, sagte er. »Gut.« Er zog das Stäbchen wieder heraus und richtet sich auf. »Tief Luft holen.«
Das Mädchen gehorchte, und er nickte. »Es geht ihr gut«, sagte
er. Er gab dem jüngeren Mann, dem mit dem strohblonden Haar, der so nett zu dem kleinen Mädchen gewesen war, ein Zeichen. »Sie lebt. Schaffen Sie sie um Himmels willen aus der Krankenstation raus, ehe sich das ändert.«
»Aber Sir«, sagte der andere Mann aufgeregt. »Das ist die Kleine, die sich den Kopf aufgeschlagen hat, als sie ohnmächtig geworden ist. Sollte sie sich nicht lieber noch ein bisschen ausruhen …«
»Wir haben nicht genug Betten, ausruhen kann sie sich in ihrer Kabine.«
»Aber Sir, ich weiß eigentlich gar nicht, zu wem sie gehört …«
Der Arzt verdrehte die Augen. »Dann fragen Sie sie, Mann.«
Der Mann mit den strohblonden Haaren senkte die Stimme. »Sir. Das ist die Kleine, von der ich Ihnen erzählt habe. Sie scheint ihr Gedächtnis verloren zu haben, wahrscheinlich ist es bei dem Sturz passiert.«
Der Arzt schaute das kleine Mädchen an. »Na, wie heißt du?«
Das kleine Mädchen dachte über die Frage nach. Es hörte die Worte, verstand, was der Mann wollte, aber wusste nicht, was es antworten sollte.
»Nun?«, drängte der Mann.
Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
Der Arzt seufzte frustriert. »Für so etwas habe ich weder Zeit noch ausreichend Betten. Ihr Fieber ist vorbei. So wie sie riecht, kommt sie aus dem Zwischendeck.«
»Aye, Sir.«
»Also, dann wird ja wohl da unten jemand sein, der sie vermisst.«
»Aye, Sir, draußen steht der Junge, der sie hergebracht hat. Er ist gerade eben gekommen, um nach ihr zu sehen. Ein Bruder wahrscheinlich.«
Der Arzt streckte den Kopf aus der Tür, um sich den Jungen anzusehen. »Und wo sind die Eltern?«
»Der Junge sagt, sein Vater ist in Australien, Sir.«
»Und die Mutter?«
Der andere Mann räusperte sich und beugte sich näher zu dem Arzt.
»Die dient irgendwo am Kap der Guten Hoffnung den Fischen als Futter, Sir. Sie ist vor drei Tagen gestorben, als wir aus dem Hafen ausgelaufen sind.«
»Fieber?«
»Aye.«
Der Arzt legte die Stirn in Falten und seufzte. »Also, dann holen Sie ihn rein.«
Ein spindeldürrer Junge mit Augen so schwarz wie Kohlen wurde hereingeführt. »Gehört dieses Mädchen zu dir?«, fragte der Arzt.
»Ja, Sir«, antwortete der Junge. »Das heißt, sie …«
»Das reicht, ich habe keine Zeit, mir ihre Lebensgeschichte anzuhören. Ihr Fieber ist abgeklungen, und die Beule an ihrem Kopf ist auch verheilt. Sie redet im Moment noch nicht besonders viel, aber sie wird sich schon bald wieder erholen. Wahrscheinlich versucht sie nur, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wenn man bedenkt, was mit eurer Mutter passiert ist. Das kommt vor, besonders bei Kindern.«
»Aber, Sir …«
»Schluss jetzt.«
»Ja, Sir.«
»Nimm sie mit.« Dann wandte er sich an den Steward. »Geben Sie das Bett jemand anderem.«
Das kleine Mädchen saß an der Reling und schaute aufs Wasser. Blaue Wellenkämme mit weißer Gischt, die von den Windböen zerzaust wurden. Das Meer war
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