Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
verstecken.«
»Verstecken, wieso?« Die Frau winkte das kleine Mädchen zu sich. »Wovor versteckst du dich denn, Kleine?«
Aber das Mädchen schüttelte nur stumm den Kopf.
»Wo ist ihre Familie?«
»Ich glaub, sie hat keine, hab jedenfalls niemanden gesehen. Sie hockte in ihrem Versteck, als ich sie gefunden hab.«
»Stimmt das, Kind? Bist du allein?«
Das kleine Mädchen dachte über die Frage nach und kam zu
dem Schluss, dass es besser war, mit Ja zu antworten, als etwas über die Autorin zu erzählen. Es nickte.
»Ach, sieh mal einer an. So ein kleines Ding mutterseelenallein auf einer Reise übers Meer.« Ma schüttelte den Kopf und tätschelte das schreiende Baby. »Ist das da dein Koffer? Gib ihn mir mal, damit ich einen Blick hineinwerfen kann.«
Das kleine Mädchen sah zu, wie Ma die Schlösser des Koffers öffnete und den Deckel anhob. Wie sie das Märchenbuch und das zweite neue Kleid zur Seite schob und darunter der Umschlag zum Vorschein kam. Die Autorin hatte den Umschlag an jenem Vormittag in den Koffer gesteckt, aber das Mädchen wusste nicht, was er enthielt. Ma brach das Siegel, öffnete ihn und nahm ein kleines Bündel Papier heraus.
Wills Augen weiteten sich. »Geldscheine.« Er warf dem kleinen Mädchen einen kurzen Blick zu. »Was sollen wir denn jetzt mit ihr machen, Ma? Sollen wir dem Steward Bescheid sagen?«
Ma schob die Geldscheine zurück in den Umschlag, faltete ihn zusammen und steckte ihn in ihren Ausschnitt. »Es hat nicht viel Sinn, irgendwem hier auf dem Schiff Bescheid zu sagen«, antwortete sie schließlich. »Das ist jedenfalls meine Meinung. Sie bleibt einfach bei uns, bis wir am anderen Ende der Welt ankommen. Dann werden wir ja sehen, wer dort auf sie wartet und ob diese Leute sich uns gegenüber dankbar dafür erweisen, dass wir uns um sie gekümmert haben.« Sie lächelte, und zwischen ihren Zähnen zeigten sich dunkle Lücken.
Das kleine Mädchen hatte nicht viel mit Ma zu tun, und darüber war es froh. Ma war viel zu sehr mit den Babys beschäftigt, von denen immer eins vorn an ihr dranzuhängen schien. Sie wurden gesäugt, das behauptete zumindest Will, aber so etwas hatte das kleine Mädchen noch nie gehört. Zumindest nicht im Zusammenhang mit Menschen. Auf den Bauernhöfen, die zu dem Anwesen gehörten, hatte es hin und wieder Tierbabys gesehen, die gesäugt wurden. Diese beiden Menschenbabys, dachte
das kleine Mädchen, waren wie zwei kleine Ferkel, die den ganzen Tag nichts anderes taten als trinken und quieken. Und während die Babys ihre Mutter auf Trab hielten, sorgten die anderen Kinder für sich selbst. Das waren sie gewöhnt, erklärte Will dem Mädchen, denn zu Hause hatten sie es auch nicht anders gekannt. Sie stammten aus einem Ort namens Little Bolton, und wenn sie nicht gerade ein Baby zu versorgen hatte, arbeitete ihre Mutter den ganzen Tag in einer Baumwollfabrik. Deswegen hustete sie so viel. Das kleine Mädchen verstand: Seine Mutter war auch kränklich, nur dass sie nicht so viel hustete wie Ma.
Abends hockte das kleine Mädchen zusammen mit den anderen Kindern in einer Ecke, wo sie der Musik lauschten, die vom oberen Deck kam, und dem Geräusch von vielen Füßen, die über den glänzenden Boden glitten. Auch jetzt saßen sie in einer dunklen Ecke und spitzten die Ohren. Anfangs hatte das kleine Mädchen immer nach oben gehen und zusehen wollen, was dort vor sich ging, aber die anderen Kinder hatten es nur ausgelacht und ihm erklärt, dass ihresgleichen auf den oberen Decks unerwünscht war und dass sie nicht näher an das Deck der feinen Pinkel herankommen würden als bis zu der Stelle am Fuß der Treppe.
Das kleine Mädchen hatte nichts dazu gesagt. Solche Regeln waren ihm noch nie untergekommen. Zu Hause durfte es - mit einer einzigen Ausnahme - überall hingehen, wo es wollte. Der einzige Ort, der dem Mädchen verboten war, war das Gartenhaus am Ende des Labyrinths, oben auf der Klippe. Das Haus, in dem die Autorin wohnte. Aber auf dem Schiff war alles anders, und es fiel dem Mädchen schwer zu verstehen, was der Junge meinte. Ihresgleichen? Kinder? Vielleicht war es ja nur Erwachsenen gestattet, die oberen Decks zu betreten.
Nicht dass es jetzt gerade große Lust gehabt hätte, nach oben zu gehen. Das kleine Mädchen war hundemüde, und das schon
seit Tagen. So müde, dass seine Beine sich anfühlten wie Baumstämme, und die Stufen doppelt so hoch erschienen, wie sie in Wirklichkeit waren. Außerdem war ihm schwindlig und es
Weitere Kostenlose Bücher