Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
rauer als gewöhnlich, und das Mädchen wiegte sich im Rhythmus des schlingernden Schiffs. Es
fühlte sich irgendwie unwohl, nicht mehr richtig krank, aber dennoch seltsam. Als hätte sich sein Kopf mit einem feinen, weißen Nebel gefüllt, der nicht mehr fortgehen wollte.
Es fühlte sich so, seit es auf der Krankenstation aufgewacht war, seit der merkwürdige Mann es untersucht und dann mit dem Jungen fortgeschickt hatte. Der Junge hatte das Mädchen mit nach unten genommen, in einen dunklen Raum voller Kojen und Matratzen und mehr Menschen, als es je auf einem Haufen gesehen hatte.
»Hier«, sagte jemand hinter dem Mädchen, und es drehte sich um. Es war der Junge. »Nicht, dass du deinen Koffer am Ende noch vergisst.«
»Mein Koffer?« Das kleine Mädchen betrachtete das weiße Gepäckstück, das er ihr hinhielt.
»Klar!«, antwortete der Junge mit einem verblüfften Blick. »Du spinnst ja tatsächlich, und ich dachte schon, du hättest nur wegen dem Arzt so getan. Sag bloß, du erinnerst dich nicht mal an deinen eigenen Koffer? Den hast du während der ganzen Reise unter Einsatz deines Lebens gehütet und uns fast die Augen ausgekratzt, wenn wir ihn auch nur angesehen haben. Und das alles bloß, damit deine tolle Autorin sich nicht aufregt.«
Das seltsame Wort knisterte zwischen ihnen, und das kleine Mädchen hatte ein Gefühl, als würde seine Haut kribbeln. »Autorin?«
Aber der Junge beachtete es gar nicht mehr. »Land!«, schrie er und stürzte an die Reling. »Da ist Land. Siehst du es?«
Das kleine Mädchen trat neben ihn, den weißen Koffer in der Hand. Argwöhnisch betrachtete es die sommersprossige Nase des Jungen, dann schaute es in die Richtung, in die er zeigte. Am Horizont entdeckte es einen Streifen Land mit Bäumen, die aus der Ferne hellgrün schimmerten.
»Das ist Australien«, sagte der Junge mit leuchtenden Augen. »Da wartet mein Pa auf uns.«
Australien, dachte das kleine Mädchen. Noch ein Wort, das es nicht kannte.
»Hier werden wir ein neues Leben anfangen, mit einem eigenen Haus und allem Drum und Dran, sogar einem Stück Land. Das schreibt mein Pa immer in seinen Briefen. Er sagt, wir werden das Land bearbeiten und unser Leben selbst in die Hand nehmen. Und das werden wir ganz bestimmt, auch wenn Ma nicht mehr bei uns ist.« Den letzten Satz hatte er ziemlich leise gesagt und dann schwieg er eine Weile. Schließlich schaute er das kleine Mädchen an und zeigte mit einer Kopfbewegung in Richtung Küste. »Wartet dein Pa auch dort auf dich?«
Das kleine Mädchen dachte über diese Frage nach. »Mein Pa?«
Der Junge verdrehte die Augen. »Dein Vater«, sagte er. »Der Mann, der zu deiner Ma gehört. Du weißt schon, dein Pa.«
»Mein Pa«, wiederholte das kleine Mädchen, aber der Junge hörte gar nicht mehr zu. Er hatte eine seiner Schwestern entdeckt, rannte auf sie zu und rief immer wieder: »Land in Sicht!«
Das kleine Mädchen nickte. »Mein Pa«, sagte sie unsicher. »Mein Pa ist auch da.«
Überall auf dem Schiff ertönten inzwischen laute Rufe: »Land in Sicht!«, und während sich immer mehr Menschen an der Reling versammelten, nahm das kleine Mädchen den weißen Koffer und ging zu einer Stelle hinter einem Stapel von Fässern, von der es sich aus unerklärlichen Gründen magisch angezogen fühlte. Es setzte sich auf den Boden und öffnete den Koffer in der Hoffnung, etwas Essbares darin zu finden. Er enthielt jedoch nichts, womit das Mädchen seinen Hunger stillen konnte, und so nahm es sich stattdessen das Märchenbuch vor, das ganz obenauf lag.
Während das Schiff sich der Küste näherte und aus winzigen Punkten in der Ferne Möwen wurden, schlug das kleine Mädchen das Buch auf und betrachtete die wunderschönen Schwarz-Weiß-Zeichnungen von einer Frau und einem Reh, die nebeneinander
auf einer Lichtung in einem dornigen Wald standen. Und irgendwie, obwohl es noch nicht lesen konnte, wusste das kleine Mädchen, dass es das Märchen kannte, das zu diesem Bild gehörte. Es handelte von einer Prinzessin, die eine weite Reise über das Meer unternahm, um einen kostbaren, verborgenen Gegenstand zu finden, der jemandem gehörte, den sie liebte.
12 Über dem Indischen Ozean 2005
Cassandra lehnte sich gegen die kalte, raue Plastikwand der Flugzeugkabine und schaute durch das Fenster hinunter auf den riesigen blauen Ozean, der den Erdball bedeckte, so weit das Auge reichte. Derselbe Ozean, den die kleine Nell vor all den Jahren mit einem Dampfer überquert
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