Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
hatte.
Es war das erste Mal, dass Cassandra nach Übersee reiste. Zwar war sie schon einmal in Neuseeland gewesen und hatte vor ihrer Hochzeit Nicks Familie in Tasmanien besucht, aber weiter war sie nie gekommen. Nick und sie hatten darüber gesprochen, hatten davon geträumt, ein paar Jahre in England zu verbringen. Nick würde für das britische Fernsehen Filmmusik schreiben, und für eine Kunsthistorikerin gab es garantiert jede Menge Arbeit in Europa. Doch dann war nie etwas aus ihren Plänen geworden, und Cassandra hatte den Traum schon vor langer Zeit zusammen mit allen anderen Träumen begraben.
Und jetzt saß sie ganz allein in einem Flugzeug nach Europa. Seit dem Gespräch mit Ben auf dem Antiquitätenmarkt, seit er ihr das Foto von dem Haus gegeben und sie später den Koffer gefunden hatte, war sie gedanklich mit fast nichts anderem mehr beschäftigt gewesen. Das Geheimnis schien sich an sie
zu klammern, und sosehr sie sich bemühte, es gelang ihr nicht, es abzuschütteln. Aber in Wahrheit wollte sie es auch gar nicht loswerden, denn sie genoss es, sich intensiv in eine Sache zu vertiefen. Es gefiel ihr, sich über Nell Gedanken zu machen, über die andere Nell, das kleine Mädchen, das sie nie gekannt hatte.
Eigentlich hatte sie, nachdem sie den Koffer gefunden hatte, gar nicht vorgehabt, gleich nach England zu fliegen. Es war ihr viel vernünftiger erschienen abzuwarten, wie sie das Ganze in vielleicht einem Monat sehen würde. Sie konnte doch nicht einfach aus einer Laune heraus nach Cornwall düsen. Aber dann hatte sie diesen Traum gehabt, denselben, der sie schon seit einem Jahrzehnt in unregelmäßigen Abständen immer wieder heimsuchte. Sie stand mitten auf einem Feld, und ringsherum war nichts am Horizont zu sehen. Der Traum hatte nichts Bedrohliches, es war nur diese Unendlichkeit. Ganz normale Vegetation, nichts, was die Fantasie anregte, bleiches, dünnes Gras, das so hoch stand, dass es ihre Fingerspitzen berührte, und eine leichte, anhaltende Brise, die dafür sorgte, dass die Grashalme raschelten.
Anfangs, vor Jahren, als der Traum noch neu gewesen war, hatte sie gewusst, dass sie nach jemandem suchte, den sie auch finden würde, wenn sie nur in die richtige Richtung ginge. Aber egal, wie oft sie diese Szene träumte, es schien ihr nie zu gelingen. Ein wogender Hügel sah aus wie der andere, sie wandte sich im falschen Moment ab oder wachte plötzlich auf.
Mit der Zeit hatte der Traum sich verändert. Ganz langsam, fast unmerklich, sodass es ihr nicht gleich aufgefallen war. Die Szenerie war nach wie vor dieselbe, alles sah genauso aus wie immer. Geändert hatte sich das Gefühl des Traums. Die Gewissheit, dass sie finden würde, was sie suchte, löste sich ganz allmählich auf, bis sie eines Tages wusste, dass es einfach nichts zu finden gab, dass niemand auf sie wartete. Egal, wie weit sie marschierte,
egal, wie unermüdlich sie suchte oder wie sehr sie sich danach sehnte, die Person zu finden - sie war und blieb allein …
Als sie am nächsten Morgen aufgewacht war, hatte das Gefühl der Verlassenheit noch eine Weile angehalten, aber Cassandra war daran gewöhnt und machte sich ganz normal an ihr Tagwerk. Nichts deutete darauf hin, dass der Tag anders als sonst verlaufen würde, bis sie zum nahe gelegenen Einkaufszentrum gegangen war, um Brot fürs Mittagessen zu kaufen, und vor dem Fenster eines Reisebüros stehen blieb. Merkwürdig, der Laden war ihr bisher nie aufgefallen. Ohne recht zu wissen, warum, öffnete sie die Tür, und ehe sie wusste, wie ihr geschah, stand sie auf dem grünen Teppich einer Phalanx von Mitarbeitern gegenüber, die alle darauf warteten, sie zu beraten.
Später erinnerte sich Cassandra daran, dass sie sich darüber gewundert hatte. Anscheinend war sie doch eine richtige Person, ein Mensch aus Fleisch und Blut, der die Umlaufbahnen anderer Menschen kreuzte. Auch wenn sie selbst so häufig das Gefühl hatte, nur ein halbes Leben zu leben, wie auf Sparflamme.
Wieder zu Hause hielt sie einen Moment inne, um die Ereignisse des Vormittags noch einmal Revue passieren zu lassen und sich zu erinnern, in welchem Augenblick genau ihre Entscheidung gefallen war. Wie es hatte passieren können, dass sie losgegangen war, um Brot zu kaufen, und mit einem Flugticket in der Tasche zurückgekehrt war. Und dann war sie in Nells Zimmer gegangen, hatte den Koffer aus seinem Versteck geholt und den gesamten Inhalt herausgenommen. Das Märchenbuch, die Zeichnung, auf deren
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