Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Rückseite der Name Eliza Makepeace stand, das linierte Schulheft, gefüllt mit Nells Handschrift.
Sie machte sich einen Milchkaffee, setzte sich damit auf Nells Bett und gab sich redlich Mühe, die fürchterliche Handschrift ihrer Großmutter zu entziffern und alles auf ein sauberes Blatt Papier zu übertragen. Cassandra war ziemlich gut darin, handschriftliche Dokumente aus vergangenen Jahrhunderten zu enträtseln
- das gehörte dazu, wenn man mit Antiquitäten handelte -, aber alte Handschriften waren eine Sache, die wiesen in der Regel ein sich stets wiederholendes Muster auf, Nells Handschrift hingegen war einfach unleserlich, die Buchstaben wie mit Absicht schlampig hingekritzelt. Hinzu kam, dass das Heft offenbar irgendwann einmal nass geworden war. Einige Seiten klebten zusammen, schrumpelige Flecken waren von Schimmel überzogen, und wenn man sich nicht genügend Zeit nahm, riskierte man, die Seiten zu zerreißen und so ihren Inhalt auf ewig zu zerstören.
Sie kam reichlich langsam voran, aber Cassandra brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass Nell versucht hatte, das Geheimnis ihrer Identität zu lüften.
April 1975. Heute haben sie mir den weißen Koffer gebracht. Ich habe ihn sofort erkannt, als ich ihn gesehen habe.
Ich habe mir nichts anmerken lassen. Doug und Phyllis kennen die Wahrheit nicht, und sie sollten nicht sehen, dass ich zitterte. Sie sollten denken, dass es sich um einen alten Koffer von Dad handelte, den er mir hinterlassen wollte. Nachdem sie gegangen waren, habe ich eine ganze Weile dagesessen und den Koffer angestarrt und verzweifelt versucht, mich zu erinnern, wer ich bin und woher ich komme. Natürlich war es zwecklos, also habe ich den Koffer irgendwann aufgemacht.
Obenauf lag ein Brief von Dad, in dem er mich um Verzeihung bittet, und darunter ein Kinderkleid - meins, nehme ich an -, eine silberne Haarbürste und ein Märchenbuch. Ich habe es sofort wiedererkannt und es aufgeschlagen, und da habe ich sie gesehen, die Autorin. Das Wort war ganz plötzlich wieder da. Sie ist der Schlüssel zu meiner Vergangenheit, da bin ich mir ganz sicher. Wenn ich sie finde, dann werde ich auch mich selbst finden. Denn genau das habe ich vor. In diesem Heft werde ich meine Fortschritte aufzeichnen, und wenn das Heft voll ist, werde ich meinen Namen kennen und wissen, warum ich ihn verloren habe.
Vorsichtig, mit angehaltenem Atem, blätterte Cassandra die schimmeligen Seiten um. Hatte Nell ihr Vorhaben in die Tat umgesetzt? Hatte sie herausgefunden, wer sie war? War das der Grund, warum sie das Haus gekauft hatte? Der letzte Eintrag stammte vom November 1975, als Nell gerade nach Brisbane zurückgekehrt war:
Ich fahre zurück, sobald ich hier alles geregelt habe. Es wird mir schwerfallen, mein Haus in Brisbane und meinen Laden zurückzulassen, aber was ist das schon im Vergleich zu der Aussicht, endlich die Wahrheit zu erfahren? Und ich bin so nah dran. Ich weiß es. Jetzt, wo mir das Haus gehört, weiß ich, dass die endgültigen Antworten folgen werden. Es ist meine Vergangenheit, mein Ich, und ich habe es fast gefunden.
Nell hatte vorgehabt, Australien zu verlassen? Und warum hatte sie es dann doch nicht getan? Was war passiert? Warum hatte sie danach nichts mehr in das Heft geschrieben?
Als sie das Datum noch einmal betrachtete, November 1975, lief Cassandra ein Schauer über den Rücken. Das war zwei Monate, bevor Lesley sie, Cassandra, bei Nell abgeliefert hatte. Aus den angekündigten vierzehn Tagen war eine Ewigkeit geworden.
Cassandra legte das Notizheft weg, als ihr dämmerte, was geschehen war. Nell hatte ohne zu zögern die Verantwortung übernommen und ihr, Cassandra, ein Heim und eine Familie gegeben. Nell hatte ihr die Mutter ersetzt. Und nicht ein einziges Mal hatte sie auch nur andeutungsweise etwas von den Plänen erwähnt, die Cassandras Ankunft zunichte gemacht hatte.
Cassandra wandte sich vom Fenster ab, holte das Märchenbuch aus ihrer Reisetasche und schlug es auf. Eigentlich wusste sie gar nicht so recht, warum es ihr so wichtig gewesen war, das Buch mit auf die Reise zu nehmen. Wahrscheinlich, weil sie sich dadurch mit Nell verbunden fühlte, dachte sie, denn es handelte
sich um das Buch aus dem weißen Koffer, eins der wenigen Dinge, die das kleine Mädchen übers Meer nach Australien begleitet hatten, es stellte die Verbindung zu Nells Vergangenheit dar. Aber es hatte auch etwas mit dem Buch selbst zu tun. Es übte noch immer dieselbe
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