Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Anziehungskraft auf Cassandra aus wie damals, als sie es in Nells Keller entdeckt hatte. Der Titel, die Illustrationen, selbst der Name der Autorin. Eliza Makepeace . Als Cassandra den Namen vor sich hin flüsterte, bekam sie eine Gänsehaut.
Hoch oben, über dem endlosen Indischen Ozean, begann Cassandra, das erste Märchen zu lesen. Es hieß Die Augen des alten Weibleins und erinnerte Cassandra an jenen heißen Sommernachmittag.
DIE AUGEN DES ALTEN WEIBLEINS
Von Eliza Makepeace
In einem Land jenseits des glitzernden Meers lebte einmal eine Prinzessin, die nicht wusste, dass sie eine Prinzessin war, denn als sie ein kleines Kind war, war ihr Königreich überfallen und geplündert und die königliche Familie ermordet worden. Der Zufall hatte es gewollt, dass die kleine Prinzessin an jenem Tag außerhalb der Schlossmauern spielte und von dem Gemetzel nichts mitbekam. Und als die Dunkelheit sich über die Erde legte und die Prinzessin ihre Spielsachen einsammelte und nach Hause ging, fand sie, wo zuvor das Schloss gestanden hatte, nur noch Ruinen vor. Ganz allein wanderte die kleine Prinzessin umher, bis sie am Rand eines finsteren Waldes an ein Häuschen kam. Als sie an die Tür klopfte, öffnete der Himmel, zornig über die Verwüstung, die er beobachtet hatte, seine Schleusen und spie peitschenden Regen auf die Erde.
In dem Häuschen lebte ein blindes altes Weiblein, das Mitleid mit der Prinzessin hatte und beschloss, sie bei sich aufzunehmen und wie ihre eigene Tochter großzuziehen. Im Haus des alten Weibleins gab es viel Arbeit zu verrichten, doch die Prinzessin ließ nie eine Klage hören, war sie doch eine wahre Prinzessin mit einem reinen Herzen. Glücklich sind die, die fleißig arbeiten, denn ihnen bleibt keine Zeit, sich mit Kummer zu belasten. Und so wuchs die Prinzessin im Haus des alten Weibleins glücklich und zufrieden auf. Sie liebte den Wechsel der Jahreszeiten und fand Erfüllung im Säen und Ernten. Von Jahr zu Jahr wurde sie schöner, doch das wusste sie nicht, denn das blinde Weiblein besaß weder einen Spiegel noch kannte es Eitelkeit, und so lernte die Prinzessin weder das eine noch das andere kennen.
Eines Tages, als die Prinzessin sechzehn Jahre alt war, saß sie mit dem alten Weiblein in der Küche beim Abendessen. »Was ist mit deinen Augen passiert, liebes altes Weiblein?«, fragte die Prinzessin, die sich darüber schon lange wunderte.
Das alte Weiblein wandte sich der Prinzessin zu. Wo seine Augen hätten sein sollen, war nur runzlige Haut zu sehen. »Mir wurde das Augenlicht genommen.«
»Von wem?«
»Vor vielen Jahren, als ich ein junges Mädchen war, liebte mein Vater mich so sehr, dass er mir die Augen herausnahm, damit ich den Tod und die Zerstörung auf der Welt nicht zu sehen brauchte.«
»Aber liebes Weiblein, so kannst du auch keine Schönheit sehen«, sagte die Prinzessin und dachte daran, welche Freude ihr der Anblick des blühenden Gartens bereitete.
»Ja, da hast du recht«, stimmte das alte Weiblein zu. »Und ich würde dich so gern heranwachsen sehen, meine Schöne.«
»Könnten wir uns nicht auf die Suche nach deinen Augen machen?«
Das alte Weiblein lächelte traurig. »Meine Augen sollten mir an meinem sechzigsten Geburtstag von einem Boten zurückgebracht
werden, aber in der vorgesehenen Nacht bist du, meine Schöne, hier eingetroffen und hast einen schrecklichen Sturm mitgebracht, sodass ich den Boten nicht empfangen konnte.«
»Können wir ihn nicht suchen gehen?«
Das alte Weiblein schüttelte den Kopf. »Der Bote konnte leider nicht warten, und so wurden meine Augen in einen tiefen Brunnen im Land der verloren gegangenen Dinge geworfen.«
»Könnten wir nicht dorthin reisen?«
»Nein«, antwortete das Weiblein. »Denn der Weg ist weit und gepflastert mit Gefahr und Entbehrungen.«
Die Zeit verging, die Jahreszeiten zogen vorüber, und das alte Weiblein wurde immer schwächer und blasser. Eines Tages, als die Prinzessin unterwegs war, um Äpfel für den Winter zu sammeln, sah sie plötzlich das alte Weiblein weinend in der Astgabel des Apfelbaums sitzen. Die Prinzessin blieb verblüfft stehen, denn sie hatte das Weiblein noch nie eine einzige Träne vergießen sehen. Dann hörte sie, dass das Weiblein mit einem weißen Vogel sprach. »Meine Augen, meine Augen«, sagte es. »Mein Ende naht, ohne dass mir mein Augenlicht wiedergegeben wurde. Sag mir, weiser Vogel, wie soll ich meinen Weg in der nächsten Welt finden, wenn ich mich selbst
Weitere Kostenlose Bücher