Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
nicht sehen kann?«
Still eilte die Prinzessin zurück ins Haus, denn sie wusste, was sie zu tun hatte. Das alte Weiblein hatte auf ihr Augenlicht verzichtet, um ihr Schutz zu gewähren, und für diese Großzügigkeit musste sie sich erkenntlich zeigen. Die Prinzessin war noch nie jenseits des Waldrands gewesen, doch sie zögerte keinen Augenblick. Ihre Liebe zu dem alten Weiblein war so groß, dass alle Sandkörner des Meers nicht ausgereicht hätten, um sie aufzuwiegen.
Beim ersten Morgengrauen stieg die Prinzessin aus dem Bett, machte sich auf durch den dunklen Wald und hielt erst inne, als sie die Küste erreichte. Dort stach sie in See und fuhr über den weiten Ozean ins Land der verloren gegangenen Dinge.
Die Reise war lang und beschwerlich, und die Prinzessin war verwirrt, denn der Wald im Land der verloren gegangenen Dinge sah ganz anders aus als alles, was sie kannte. Die Bäume waren krumm und bizarr, die Tiere schauerlich, und selbst das Vogelzwitschern ließ die Prinzessin zusammenfahren. Ihre Angst wurde immer größer, und sie lief schneller und immer schneller, bis sie schließlich mit pochendem Herzen stehen blieb. Die Prinzessin hatte sich verirrt und wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte. Sie war der Verzweiflung nahe, doch plötzlich erschien der weiße Vogel. »Das alte Weiblein hat mich geschickt«, sprach der Vogel, »damit ich dich sicher zu dem Brunnen der verloren gegangenen Dinge führe, wo du deinem Schicksal begegnen wirst.«
Erleichtert folgte die Prinzessin dem Vogel. Ihr knurrte der Magen, denn in diesem seltsamen Land hatte sie nichts zu essen finden können. Unterwegs traf sie auf eine alte Frau, die auf einem umgestürzten Baumstamm saß. »Wie geht es dir, du Schöne?«, fragte die Alte.
»Ich bin so hungrig«, antwortete die Prinzessin, »aber ich weiß nicht, wo ich etwas zu essen finden soll.«
Die alte Frau deutete in den Wald, und da sah die Prinzessin, dass an den Ästen der Bäume lauter Beeren und Nüsse hingen.
»Vielen Dank, du gütige Frau«, sagte die Prinzessin.
»Ich habe nichts getan«, entgegnete die Alte. »Ich habe dir nur die Augen geöffnet, damit du Dinge siehst, von denen du wusstest, dass sie da sind.«
Gesättigt folgte die Prinzessin weiter dem weißen Vogel, doch plötzlich schlug das Wetter um, und ein kalter Wind kam auf.
Wieder traf die Prinzessin auf eine alte Frau, die auf einem umgestürzten Baumstamm saß. »Wie geht es dir, meine Schöne?«
»Mir ist so kalt, aber ich weiß nicht, wo ich warme Kleider finden soll.«
Die Alte deutete in den Wald, und plötzlich entdeckte die Prinzessin
lauter wilde Rosenranken voller weicher, samtiger Blüten. Sie bedeckte sich mit den Rosen, und schon wurde ihr warm.
»Vielen Dank, du gütige Frau«, sagte sie.
»Ich habe nichts getan«, entgegnete die Alte. »Ich habe dir nur die Augen geöffnet, damit du Dinge siehst, von denen du wusstest, dass sie da sind.«
Gesättigt und gegen die Kälte geschützt, folgte die Prinzessin weiter dem weißen Vogel durch den Wald, doch bald taten ihr vom vielen Wandern die Füße weh.
Da traf die Prinzessin wieder auf eine alte Frau, die auf einem umgestürzten Baumstamm saß. »Wie geht es dir, meine Schöne?«
»Ich bin so müde, aber ich weiß nicht, wo ich nach einer Kutsche suchen soll.«
Die Alte deutete in den Wald, und da entdeckte die Prinzessin ein glänzend braunes Reh mit einem goldenen Halsband. Das Reh blinzelte die Prinzessin mit seinen dunklen, nachdenklichen Augen an, und weil die Prinzessin ein gutes Herz hatte, streckte sie die Hand nach ihm aus. Da kam das Reh zu ihr und senkte den Kopf, damit sie auf seinen Rücken steigen konnte.
»Vielen Dank, du gütige Frau«, sprach die Prinzessin.
»Ich habe nichts getan«, entgegnete die Alte. »Ich habe dir nur die Augen geöffnet, damit du Dinge siehst, von denen du wusstest, dass sie da sind.«
Die Prinzessin und das Reh folgten dem Vogel und wanderten immer tiefer in den Wald hinein, und nach einigen Tagen lernte die Prinzessin die Sprache des Rehs zu verstehen. In ihren nächtlichen Gesprächen erfuhr sie, dass das Reh vor einem heimtückischen Jäger auf der Flucht war, dem eine böse Hexe aufgetragen hatte, es zu töten. Die Prinzessin aber war dem Reh so dankbar für seine Freundlichkeit, dass sie sich vornahm, es vor seinen Peinigern zu beschützen.
Gute Vorsätze jedoch ebnen den Weg ins Verderben, und als die Prinzessin am nächsten Morgen erwachte, lag das Reh nicht
wie
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