Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
magere Mädchen mit dem langen, rotblonden Zopf. Eliza streifte kurz den Blick des Mannes mit dem Kneifer. Die Gläser glänzten weiß, sodass sie seine Augen dahinter nicht sehen konnte.
Der Sanitäter hob die Hand, um die Menge zum Schweigen zu bringen. »Also gut, Kind. Wie heißt denn dieser Unglücksrabe?«
»Er heißt Sammy Makepeace«, sagte Eliza, »und er ist mein Bruder.«
Für ihre Beerdigung hatte ihre Mutter etwas zur Seite gelegt, für ihre Kinder jedoch hatte sie keine solche Vorkehrung getroffen. Das war nur verständlich, denn welche Eltern würden so etwas für nötig halten?
»Er bekommt ein Armenbegräbnis draußen auf St. Bride’s«, verkündete Mrs Swindell später am selben Nachmittag. Sie schlürfte etwas Suppe, dann zeigte sie mit ihrem Löffel auf Eliza, die auf dem Fußboden saß. »Sie machen die Grube am Mittwoch wieder auf. Bis dahin werden wir ihn wohl oder übel hierbehalten müssen.« Sie kaute mit vorgeschobener Unterlippe. »Oben natürlich, das fehlte mir noch, dass der Gestank die Kunden vergrault.«
Eliza hatte schon von den Armenbegräbnissen auf St. Bride’s gehört. Die große Grube, die jede Woche einmal geöffnet wurde,
die Stapel von Leichen, der Geistliche, der hastig ein paar Gebete herunterleierte, um dem fürchterlichen Gestank des Viertels möglichst schnell wieder zu entkommen. »Nein«, sagte sie, »nicht St. Bride’s.«
Die kleine Hatty hörte auf, ihr Brot zu kauen. Sie schob sich den abgebissenen Brocken in die Backe und schaute mit weit geöffneten Augen erst ihre Mutter, dann Eliza an.
»Nein?« Mrs Swindells dünne Finger umklammerten den Löffel.
»Bitte, Mrs Swindell«, sagte Eliza. »Er soll ein richtiges Begräbnis bekommen. Wie Mutter.« Sie biss sich auf die Zunge, um nicht in Tränen auszubrechen. »Ich möchte, dass er bei Mutter liegt.«
»Ach ja, das möchtest du? Vielleicht auch noch einen von Pferden gezogenen Leichenwagen? Und wie wär’s mit einem professionellen Grabredner? Und dann sollen Mr Swindell und ich natürlich für das schicke Begräbnis aufkommen?« Sie schnaubte gierig, genoss ihre giftigen Worte. »Im Gegensatz zur allgemeinen Meinung, kleine Miss, sind wir nicht die Wohlfahrt, also wenn du nicht selbst das Geld dafür aufbringen kannst, wird dein Bruder seine letzte Ruhestätte auf St. Bride’s finden. Das ist für seinesgleichen weiß Gott gut genug.«
»Ich möchte gar keine Kutsche, Mrs Swindell, und auch keinen Grabredner. Einfach nur ein Begräbnis, ein eigenes Grab.«
»Und wer soll das deiner Meinung nach ermöglichen?«
Eliza schluckte. »Mrs Barkers Bruder ist Leichenbestatter, vielleicht kann er das ja übernehmen. Wenn Sie ihn fragen, Mrs Swindell, macht er das bestimmt …«
»Ich soll mich wohl für dich und diesen Schwachkopf von deinem Bruder einsetzen?«
»Er ist kein Schwachkopf.«
»Er war immerhin blöd genug, sich von einem Gaul tottrampeln zu lassen.«
»Es war nicht seine Schuld, es war der Nebel.«
Mrs Swindell schlürfte noch etwas Suppe über ihre Unterlippe.
»Er wollte nicht mal rausgehen«, sagte Eliza.
»Natürlich wollte er das nicht«, sagte Mrs Swindell. »Von allein wär der nie auf solche Ideen gekommen. Das hast du ihm eingeflüstert.«
»Bitte, Mrs Swindell, ich kann es selbst bezahlen.«
Mrs Swindell hob die buschigen Brauen. »So so. Du kannst das also selbst bezahlen. Und womit? Mit Versprechungen und Luftschlössern?«
Eliza dachte an den kleinen Lederbeutel, in dem sich mittlerweile fünfzehn Pence befanden. »Ich … ich habe ein bisschen Geld.«
Mrs Swindell blieb der Mund offen stehen, und ein Tropfen Suppe lief ihr übers Kinn.
»Ein bisschen Geld?«
»Nur ein bisschen.«
»Du raffiniertes kleines Luder.« Ihre Lippen kräuselten sich wie der Rand eines Geldbeutels. »Und wie viel?«
»Fünfzehn Pence.«
Mrs Swindell kreischte laut vor Lachen; ein fürchterliches Geräusch, so fremdartig, so grob, dass ihre kleine Tochter zu heulen anfing. »Fünfzehn Pence?«, spottete sie. »Für fünfzehn Pence kriegst du nicht mal die Sargnägel.«
Mutters Brosche, sie könnte die Brosche verkaufen, dachte Eliza. Sicher, sie hatte ihrer Mutter versprechen müssen, sich erst davon zu trennen, wenn der böse Mann gefährlich wurde, aber in einer solchen Situation …
Mrs Swindell hustete, erstickte beinahe an ihrer eigenen Schadenfreude. Sie schlug sich auf die knochige Brust, dann setzte sie die kleine Hatty auf den Fußboden, die sofort loskrabbelte.
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