Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
die Palme wie Leute, die es so eilig haben, sich einen zuckerfreien
Muffin und eine Diätcola einzuverleiben, dass sie blind durch meine Ausstellung rennen.«
Cassandra lächelte ein wenig schuldbewusst in der Hoffnung, dass Ruby nicht hörte, wie ihr von den köstlichen Düften aus dem Café der Magen knurrte. Sie hatte ebenfalls vorgehabt, als Erstes für ihr leibliches Wohl zu sorgen.
»Ich meine, wie können sie sich die Gelegenheit entgehen lassen, der Vergangenheit in die Augen zu blicken«, sagte sie mit einer ungehaltenen Handbewegung in Richtung der mit Schätzen gefüllten Vitrinen. »Kannst du das verstehen?«
Cassandra schüttelte den Kopf und versuchte, ein erneutes Bauchrumoren zu unterdrücken.
»Ach ja«, seufzte Ruby theatralisch. »Aber jetzt bist du hier, und diese Kulturbanausen sollen mir doch den Buckel runterrutschen. Wie fühlst du dich? Macht der Jetlag dir noch zu schaffen?«
»Nein, nein, mir geht’s gut.«
»Gut geschlafen?«
»Das Schlafsofa ist sehr bequem.«
»Du brauchst mir nichts vorzumachen«, sagte Ruby lachend. »Trotzdem, netter Versuch. Zumindest haben die harten Federn verhindert, dass du den ganzen Tag verschläfst. Sonst hätte ich dich anrufen und wecken müssen, denn dass du meine Ausstellung verpasst, kommt nicht infrage.« Sie strahlte. »Ich kann es immer noch nicht glauben, dass Nathaniel Walker auf dem Landsitz gelebt hat, zu dem dein Haus gehört! Bestimmt hat er es gesehen und sich davon inspirieren lassen. Womöglich ist er sogar mal drinnen gewesen.« Mit ihren runden, leuchtenden Augen hakte sich Ruby bei Cassandra unter und schob sie den Gang entlang. »Komm, du wirst begeistert sein.«
Etwas beunruhigt nahm Cassandra sich vor, ein halbwegs begeistertes Gesicht aufzusetzen, egal, was Ruby ihr zeigen würde.
»So, da wären wir.« Ruby deutete triumphierend auf eine Reihe Zeichnungen in einer Vitrine. »Na, was hältst du davon?«
Cassandra verschlug es den Atem. Sie beugte sich vor, um die Exponate besser in Augenschein nehmen zu können. Sie brauchte keine Begeisterung vorzutäuschen, denn die Bilder schockierten und erregten sie gleichermaßen. »Aber woher …? Wie bist du …?«, stammelte Cassandra, während Ruby entzückt in die Hände klatschte. »Ich wusste nicht mal, dass solche Bilder existieren.«
»Niemand hat davon gewusst«, erwiderte Ruby hingerissen. »Niemand außer der Eigentümerin, und die hatte sie selbst schon fast vergessen.«
»Wie bist du darangekommen?« Cassandras Herz pochte.
»Reiner Zufall, meine Liebe. Reiner Zufall. Als ich anfangs die Idee zu dieser Ausstellung hatte, wollte ich nicht einfach dieselben alten Viktorianer neu arrangieren, an denen die Leute schon seit Jahrzehnten vorbeischlurfen. Also habe ich in allen Fachzeitschriften, die mir einfielen, eine Kleinanzeige aufgegeben. Der Text war ganz schlicht: Als Leihgabe gesucht: Kunstgegenstände der Jahrhundertwende (19. Jh.). Für eine liebevoll gestaltete Ausstellung in einem Londoner Museum.
Und siehe da, kaum war die erste Anzeige erschienen, stand mein Telefon nicht mehr still. Das meiste, was mir angeboten wurde, war natürlich unbrauchbares Zeug, Großtante Mavis’ Gemälde vom Himmel und dergleichen, aber es gab auch wahre Kleinode unter all dem Schrott. Du würdest dich wundern, wie viele unbezahlbare Stücke völlig unbeachtet überlebt haben.«
Bei Antiquitäten verhielt es sich genauso, dachte Cassandra; die besten Fundstücke waren diejenigen, die seit Jahrzehnten vergessen und so dem Zugriff begeisterter Heimwerker entgangen waren.
Ruby betrachtete erneut die Zeichnungen. »Die hier gehören zu meinen kostbarsten Fundstücken.« Sie lächelte Cassandra an.
»Unvollendete Zeichnungen von Nathaniel Walker, wer hätte das gedacht? Ich meine, wir haben eine kleine Sammlung seiner Porträts ein Stockwerk höher, und in der Tate Britain gibt es auch einen Raum mit Werken von ihm, aber soweit ich wusste - und soweit überhaupt jemand wusste -, war das alles, was überlebt hatte. Ansonsten ist man immer davon ausgegangen, dass alles andere …«
»Vernichtet wurde. Ja, ich weiß.« Cassandras Wangen glühten. »Nathaniel Walker war bekannt dafür, dass er seine Entwürfe oder Arbeiten, mit denen er unzufrieden war, weggeworfen hat.«
»Dann kannst du dir ja lebhaft vorstellen, was in mir vorgegangen ist, als die Frau mir diese Sachen gegeben hat. Am Tag zuvor war ich bis nach Cornwall rausgefahren und hatte eine Adresse nach der anderen
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