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Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden

Titel: Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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auszustellen, und so haben sie heil und unbeachtet das ganze zwanzigste Jahrhundert überlebt.«
    Cassandra beugte sich näher über die Bilder. Auch wenn sie sie zuvor nie gesehen hatte, erkannte sie sie auf Anhieb. Sie waren unverwechselbar: frühe Skizzen der Illustrationen zu dem Märchenbuch. Hastig gezeichnet, die Linien ungeduldig hingekritzelt voller Erwartung, voll der anfänglichen Begeisterung des Künstlers für ein neues Thema. Cassandra kannte das Gefühl,
und ihr Puls beschleunigte sich, als sie sich daran erinnerte, wie es ihr früher jedes Mal ergangen war, wenn sie eine neue Zeichnung in Angriff genommen hatte. »Unglaublich, die Chance zu bekommen, ein Kunstwerk in seiner Entstehung zu sehen. Manchmal denke ich, dass so etwas mehr über den Künstler aussagt, als das vollendete Werk es je könnte.«
    »Wie die Skulpturen von Michelangelo in Florenz.«
    Cassandra schaute Ruby von der Seite an, froh, von ihr verstanden zu werden. »Als ich zum ersten Mal ein Bild von diesem Knie gesehen habe, wie es aus dem Marmor wächst, habe ich eine Gänsehaut gehabt. Als wäre die Figur in dem Material gefangen und wartete nur auf jemanden, der sie daraus befreit.«
    Ruby strahlte. »Hey«, sagte sie. Offenbar war ihr eine spontane Idee gekommen, »du bist doch nur noch eine Nacht in London, was hältst du davon, richtig gepflegt essen zu gehen? Eigentlich bin ich mit meinem Freund Grey verabredet, aber der wird das schon verstehen. Oder ich bringe ihn einfach mit, dann ist es noch lustiger, schließlich …«
    »Entschuldigen Sie, Ma’am«, sagte jemand mit amerikanischem Akzent, »arbeiten Sie hier?«
    Ein hochgewachsener Mann mit schwarzem Haar stand plötzlich zwischen den beiden Frauen.
    »Ja«, erwiderte Ruby, »was kann ich für Sie tun?«
    »Meine Frau und ich sind mächtig hungrig, und einer der Jungs oben hat mir gesagt, hier unten gäbe es ein Café.«
    Ruby warf Cassandra einen kurzen Blick zu und verdrehte die Augen. »Wir sehen uns dann um sieben im Carluccio’s. Ich muss wieder an die Arbeit.« Dann rang sich ein schmales Lächeln ab. »Hier entlang, Sir. Ich zeige Ihnen den Weg.«
     
     
     
    Nachdem sie das Museum verlassen hatte, machte sich Cassandra auf die Suche nach einem Ort für ein verspätetes Mittagessen.
Die letzte ordentliche Mahlzeit, die sie zu sich genommen hatte, war das Abendessen im Flugzeug gewesen, danach nur noch eine Handvoll von Rubys Lakritzkonfekt und eine Tasse Tee. Kein Wunder, dass sich ihr Magen lautstark bemerkbar machte. Nells Notizbuch enthielt einen Taschenstadtplan von Londons Zentrum, der auf der Innenseite angeklebt war, und soweit Cassandra beurteilen konnte, würde sie überall etwas zu essen finden, egal, welche Richtung sie einschlug. Beim Studieren des Stadtplans fiel ihr ein kaum sichtbares Kreuzchen auf, wo Nell mit einem Kugelschreiber eine Straße in Battersea auf der anderen Seite der Themse markiert hatte. Das Kreuz bezeichnete eine bestimmte Stelle, aber welche genau?
    Zwanzig Minuten später kaufte sie sich in einer Trattoria auf der Kings Road ein Thunfischsandwich und eine Flasche Wasser, dann ging sie die Flood Street in Richtung Themse hinunter. Auf der anderen Seite des Flusses reckten sich die vier hohen Schlote des Battersea-Kraftwerks kühn in den Himmel. Eine eigentümliche Erregung überkam Cassandra, als sie Nells Spuren folgte.
    Die Herbstsonne war hinter den Wolken aufgetaucht und warf silbrige Sprenkel auf das Wasser des Flusses. Die Themse. Was der Fluss schon alles gesehen hatte: unzählige Menschen, die entlang seiner Ufer gelebt hatten, aber auch zahllose Tote. Und von diesem Fluss aus hatte vor langen Jahren ein Schiff abgelegt, mit der kleinen Nell an Bord. Hatte sie ihrem vertrauten Leben entrissen und in eine ungewisse Zukunft entführt. Eine Zukunft, die bereits Vergangenheit war, ein Leben, das längst vorüber war. Und doch spielte es noch eine Rolle, es hatte für Nell eine Rolle gespielt und jetzt spielte es für Cassandra eine Rolle. Dieses Rätsel war ihr Erbe. Mehr noch, es lag in ihrer Verantwortung, das Rätsel zu lösen.

18 London England, 1975
    Nell legte den Kopf schief, um einen besseren Blickwinkel zu haben. Sie hatte gehofft, wenn sie das Haus sehen würde, in dem Eliza gewohnt hatte, würde sie es irgendwie wiedererkennen und instinktiv spüren, dass es in ihrer Vergangenheit eine wichtige Rolle gespielt hatte. Aber nichts dergleichen geschah. Das Haus Nummer 35 in der Battersea Bridge Road war ihr

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