Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
vollkommen fremd. Es war sehr schlicht und sah im Großen und Ganzen genauso aus wie alle anderen Häuser in der Straße: drei Stockwerke, Schiebefenster, dünne Regenrohre, die sich an von der Zeit und der Witterung schwarz verfärbten Ziegelmauern hochwanden. Das Einzige, was es von den anderen Häusern unterschied, war ein merkwürdiger Anbau auf dem oberen Stockwerk. Von außen sah es so aus, als hätte irgendwann jemand einen Teil des Dachs aufgemauert, um ein zusätzliches Zimmer zu gewinnen, aber das konnte sie erst mit Sicherheit wissen, wenn sie es von innen sah.
Die Battersea Bridge Road verlief in nördlicher Richtung auf die Themse zu, aber diese schmutzige Straße mit dem Müll in den Rinnsteinen und den rotznasigen Kindern, die auf dem Pflaster spielten, wirkte nicht gerade wie ein Ort, der eine Märchenautorin hervorgebracht hatte. Das waren natürlich alberne, romantische Gedanken, aber als Nell versucht hatte, sich Eliza vorzustellen, hatte sie die Szenerie in ihrer Fantasie mit Bildern ausgeschmückt, die an J. M. Barries Kensington Gardens oder an den zauberhaften Charme von Lewis Carrolls Oxford erinnerten.
Und das hier war die Adresse aus dem Buch, das sie von Mr Snelgrove gekauft hatte. Dies war das Haus, in dem Eliza Makepeace geboren worden war. Wo sie ihre frühe Kindheit verlebt hatte.
Nell ging näher heran. Da niemand im Haus zu sein schien, riskierte sie einen Blick durchs Fenster. Ein kleines Wohnzimmer, ein kleiner, gemauerter Kamin und eine winzige Küche, von der aus man durch eine Tür auf einen mit Ziegelsteinen gepflasterten Hof gelangte. Neben der Tür führte eine schmale Treppe nach oben.
Als Nell zurücktrat, wäre sie beinahe über eine vertrocknete Topfpflanze gestolpert.
Ein blasses, von einer Aureole aus feinem, weißem Haar eingerahmtes Gesicht, das am Fenster des Nachbarhauses auftauchte, ließ sie zusammenfahren. Nell blinzelte, schaute noch einmal hin, aber das Gesicht war wieder verschwunden. Ein Gespenst? Nell glaubte nicht an Gespenster, zumindest nicht an solche, die nachts in Häusern herumspukten.
Plötzlich wurde die Tür des Hauses Battersea Bridge Road 37 aufgerissen, und im Türrahmen erschien eine winzige Frau mit spindeldürren Beinen und einem Krückstock. Aus einer Warze an der linken Seite ihres Kinns wuchs ein langes, silbernes Haar. »Wer bist du, Mädel?«, fragte sie mit einem starken Cockney-Akzent.
Es war mindestens vierzig Jahre her, dass jemand sie Mädel genannt hatte, dachte Nell. »Nell Andrews«, sagte sie, während sie sich einen Schritt von der vertrockneten Pflanze entfernte. »Ich bin nur zu Besuch hier, sehe mich ein bisschen um. Ich versuche nur …« Sie streckte der Frau die Hand entgegen. »Ich bin Australierin.«
»Australierin?«, wiederholte die Frau und verzog die bleichen Lippen zu einem zahnlosen Lächeln. »Warum hast du das nicht gleich gesagt? Mein Schwiegersohn ist Australier. Die beiden wohnen in Sydney, vielleicht kennst du sie ja. Desmond und Nancy Parker?«
»Ich fürchte nein«, erwiderte Nell, woraufhin das Lächeln der Alten verschwand. »Ich wohne nicht in Sydney.«
»Tja«, sagte die Frau leicht skeptisch. »Wenn du mal hinkommst, läufst du ihnen vielleicht über den Weg.«
»Desmond und Nancy. Ich werde mir die Namen merken.«
»Der kommt meistens erst abends von der Arbeit.«
Nell runzelte die Stirn. Der Schwiegersohn in Sydney?
»Der Mann von nebenan. Ziemlich stiller Bursche.« Die Frau senkte ihre Stimme zu einem seltsamen Flüstern. »Ist zwar ein Neger, aber er arbeitet ziemlich hart.« Sie schüttelte den Kopf. »Ein Neger! Ein Mann aus Afrika hier in der Battersea Bridge Road. Wer hätte das für möglich gehalten? Meine Mutter würde sich im Grab umdrehen, wenn sie wüsste, dass jetzt Neger in der alten Straße wohnen. Noch dazu in dem alten Haus.«
Nell wurde hellhörig. »Ihre Mutter hat auch hier gewohnt?«
»Das kann man wohl sagen«, antwortete die Alte stolz. »Ich bin hier geboren, und zwar genau in dem Haus, für das du dich da eben interessiert hast.«
»Hier geboren?« Nell hob die Brauen. Es gab nicht viele Menschen, die von sich behaupten konnten, sie hätten ihr ganzes Leben in ein und derselben Straße gewohnt. »Wann war das denn? Vor ungefähr sechzig, siebzig Jahren?«
»Vor achtundsiebzig Jahren, wohlgemerkt.« Die Alte reckte das Kinn vor, sodass das silberne Haar im Sonnenlicht leuchtete. »Und keinen Tag weniger.«
»Achtundsiebzig Jahre«, wiederholte Nell
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