Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
abgeklappert, nur um alle möglichen Stücke, die nichts taugten, höflich abzulehnen. Ehrlich gesagt« - sie verdrehte die Augen - »du würdest dich wundern, wenn du wüsstest, was die Leute mir alles andrehen wollten. Jedenfalls, als ich an dem Haus ankam, war ich kurz davor, das Handtuch zu werfen. Das war so ein kleines reetgedecktes Haus an der Küste, und als Clara die Tür öffnete, hatte ich mich eigentlich schon darauf eingestellt, es kurz zu machen. Sie ist eine merkwürdige kleine Person, wie eine Figur aus einem Buch von Beatrix Potter, eine uralte Henne mit Kittelschürze. Sie führte mich in das winzigste, vollgestopfteste Wohnzimmer, das ich je gesehen hatte - dagegen ist meine Wohnung die reinste Villa -, und sie bestand darauf, mir einen Tee zu machen. Nach so einem Tag wäre mir ja ein Whisky lieber gewesen, aber ich hab mich einfach in die Sofakissen sinken lassen und darauf gewartet, dass sie irgendwelchen Tinnef hervorkramt.«
»Und dann hat sie dir diese Zeichnungen gegeben.«
»Ich wusste sofort, um was es sich handelte. Sie sind zwar nicht signiert, aber das Papier enthält sein Wasserzeichen. In der oberen
linken Ecke. Ich schwöre dir, ich habe regelrecht angefangen zu zittern, als ich das gesehen habe. Um ein Haar hätte ich meinen Tee über die Bilder verschüttet.«
»Aber woher hatte sie die Bilder?«, fragte Cassandra. »Von wem?«
»Sie sagte, sie hätte sie zwischen den Sachen ihrer Mutter gefunden«, erwiderte Ruby. »Ihre Mutter Mary war zu Clara gezogen, nachdem sie Witwe geworden war, und hat bis zu ihrem Tod Mitte der Sechzigerjahre bei ihr gewohnt. Beide waren verwitwet, und sie haben sich offenbar gut verstanden. Jedenfalls war Clara ganz glücklich darüber, in mir ein Opfer gefunden zu haben, das sie mit Geschichten über ihre geliebte Mutter beglücken konnte. Als ich mich verabschieden wollte, hat sie darauf bestanden, mich über eine halsbrecherische Treppe nach oben zu führen und mir Marys Zimmer zu zeigen.« Ruby beugte sich zu Cassandra vor. »Und das war vielleicht eine Überraschung! Mary war schon seit vierzig Jahren tot, aber das Zimmer sah aus, als könnte sie jeden Moment nach Hause kommen. Es war richtig unheimlich, aber auf eine irgendwie angenehme Weise: ein schmales Bett, perfekt bezogen, auf dem Nachttisch eine gefaltete Zeitung mit einem nur halb gelösten Kreuzworträtsel auf der obersten Seite. Und unter dem Fenster stand eine kleine verschlossene Truhe - ich war völlig aus dem Häuschen.« Sie fuhr sich mit den Fingern durch ihr wildes graues Haar. »Ich schwöre dir, ich musste mich derart zusammenreißen, um mich nicht daraufzustürzen und das Schloss mit bloßen Händen aufzureißen.«
»Und? Hat sie Truhe aufgemacht? Hast du gesehen, was drin war?«
»Leider nicht. Ich habe mich bescheiden zurückgehalten, und im nächsten Augenblick wurde ich auch schon wieder hinauskomplimentiert. Ich musste mich mit den Zeichnungen von Nathaniel Walker zufriedengeben und mit Claras Beteuerungen,
dass sie weiter nichts in dieser Art unter den Sachen ihrer Mutter gefunden hat.«
»War Mary denn auch Künstlerin?«, fragte Cassandra.
»Nein, Dienstmädchen. Zumindest anfangs. Während des Ersten Weltkriegs hat sie in einer Munitionsfabrik gearbeitet, wahrscheinlich war sie danach nicht wieder als Dienstmädchen in Stellung. Oder wie man’s nimmt: Sie hat dann nämlich einen Schlachter geheiratet und den Rest ihrer Tage damit verbracht, Blutwurst herzustellen und Hackbretter zu schrubben. Ich weiß wirklich nicht, was schlimmer ist.«
»Trotzdem«, wandte Eliza stirnrunzelnd ein, »wie in aller Welt hat sie diese Sachen in die Finger bekommen? Nathaniel Walker war bekannt für seine Geheimnistuerei, und es existieren fast keine Zeichnungen von ihm. Er hat sie nie herausgerückt und sich geweigert, Verträge mit Verlegern zu unterschreiben, die die Rechte auf die Originale erwerben wollten, und dabei ging es nur um fertiggestellte Arbeiten. Ich kann mir nicht vorstellen, was ihn dazu veranlasst haben könnte, sich von unvollendeten Zeichnungen wie diesen hier zu trennen.«
Ruby zuckte die Achseln. »Vielleicht hat sie sich die Blätter ausgeliehen? Oder gekauft? Oder auch gestohlen. Keine Ahnung. Und ehrlich gesagt, es ist mir auch völlig schnuppe. Ich hake es einfach als eins der schönsten Rätsel des Lebens ab. Und ich bin heilfroh, dass sie sie in die Finger bekommen hat, ohne zu ahnen, wie wertvoll sie sind. Sie ist nie auf die Idee gekommen, sie
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