Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
würden Sie sich bei mir melden, falls Ihnen noch etwas über Eliza einfällt? Egal was?«
Die Alte hob eine silberne Braue und musterte Nell. Dann nahm sie den Zettel entgegen. Als sie antwortete, klang ihre Stimme plötzlich anders. »Wenn mir noch etwas einfällt, gebe ich dir Bescheid.«
»Vielen Dank, Mrs …«
»Swindell«, sagte die alte Frau. »Miss Harriet Swindell. Bin nie einem Mann begegnet, den ich heiraten wollte.«
Nell hob eine Hand zum Abschied, aber Miss Swindells Tür hatte sich bereits geschlossen. Als der Kessel in der Küche endlich Ruhe gab, schaute Nell auf ihre Armbanduhr. Wenn sie sich beeilte, würde sie es noch in die Tate Gallery schaffen, um sich Nathaniel Walkers Porträt von Eliza anzusehen, das Bild, dem er den Titel Die Autorin gegeben hatte. Sie nahm den kleinen Touristenstadtplan aus ihrer Handtasche und fuhr mit dem Finger am Fluss entlang, bis sie den Uferabschnitt Millbank fand. Ein roter Bus rumpelte durch die Straße. Nell warf einen letzten Blick auf die viktorianischen Häuser, die die Kulisse für Elizas Kindheit abgegeben hatten, dann machte sie sich auf den Weg.
Dort, an der Wand der Tate Gallery, hing ihr Porträt. Die Autorin. Genau so, wie Nell sie in Erinnerung hatte. Ein dicker Zopf, der ihr auf der linken Schulter lag, weiße Spitzenbluse, bis zum Hals zugeknöpft, Hut auf dem Kopf. Der Hut unterschied sich deutlich von denen, die die Damen in der edwardianischen Zeit gewöhnlich trugen. Seine Form war männlicher, er saß keck zur
Seite geschoben, und im Gesichtsausdruck seiner Trägerin lag eine gewisse Respektlosigkeit, auch wenn Nell sich nicht ganz sicher war, was diesen Eindruck hervorrief. Sie schloss die Augen. Wenn sie sich anstrengte, konnte sie sich beinahe sogar an die Stimme erinnern. Sie klang ihr hin und wieder ganz unerwartet in den Ohren, eine helltönende Stimme, geheimnisvoll und zauberhaft. Aber ehe Nell sie mit einer Erinnerung verbinden und sich zu eigen machen konnte, war sie schon wieder verklungen.
Hinter ihr entstand plötzlich ein Gedränge, und sie öffnete die Augen. Wieder sah sie Die Autorin vor sich und trat näher an das Bild heran. Es war ein ungewöhnliches Bild, eine Kohlezeichnung, eher eine Studie als ein Porträt. Auch die Perspektive war interessant. Das Modell schaute nicht wie üblich den Betrachter an, sondern es schien, als hätte Eliza sich bereits zum Gehen gewandt, sich im letzten Moment noch einmal umgedreht, und als hätte der Künstler genau diesen Augenblick eingefangen. Ihre großen Augen hatten etwas Gewinnendes, ihre Lippen waren leicht geöffnet, als wäre sie drauf und dran, etwas zu sagen. Gleichzeitig lag etwas Beunruhigendes in ihrem Gesichtsausdruck. Es war das gänzliche Fehlen auch nur der leisesten Spur eines Lächelns. Sie wirkte beinahe überrascht, als fühlte sie sich beobachtet. Ertappt.
Wenn du nur sprechen könntest, dachte Nell. Dann könntest du mir vielleicht erzählen, wer ich bin und was ich mit dir zu tun hatte. Warum wir zusammen auf diesem Schiff waren und warum du mich nicht abgeholt hast.
Die Enttäuschung lag auf Nell wie eine Last, auch wenn sie nicht hätte sagen können, welche Offenbarungen sie sich von dem Porträt erwartet hatte. Oder eher erhofft, korrigierte sie sich. Ihre ganze Suche basierte allein auf Hoffnung. Die Welt war schrecklich groß, und es war nicht leicht, einen Menschen zu finden, der vor sechzig Jahren verloren gegangen war, selbst wenn es sich bei diesem Menschen um einen selbst handelte.
Der Walker-Saal leerte sich allmählich, und auf einmal fand Nell sich von allen Seiten umgeben von den stummen Blicken längst Verstorbener. Sie alle beobachteten sie auf diese seltsame, melancholische Weise, wie Porträts es an sich haben; auf ewig wachsame Augen folgen dem Betrachter durch den Raum. Sie schauderte und zog sich ihre Jacke über.
Das zweite Porträt fiel ihr auf, als sie schon fast an der Tür war. Als sie das Gemälde der dunkelhaarigen Frau mit der blassen Haut und den vollen Lippen erblickte, wusste Nell sofort, wer sie war. Tausend Erinnerungsfetzen fügten sich in einem einzigen Augenblick zusammen, sie spürte die Gewissheit in jeder Körperzelle. Der Name Rose Elizabeth Mountrachet , der auf einem Schild auf dem Rahmen eingraviert war, sagte ihr nichts. Es war mehr, und es war zugleich viel weniger. Nells Lippen begannen zu zittern, und etwas tief in ihrer Brust zog sich zusammen. Sie bekam kaum noch Luft. »Mama«, flüsterte sie und
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