Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
sie dir nichts anderes befiehlt.«
Eliza nickte. Sie war also ihre Tante.
Mr Thomas schaute sie unverwandt an. Ohne den Blick abzuwenden schüttelte er den Kopf. »Ja«, sagte er leise. »Ich sehe die Ähnlichkeit mit deiner Mutter. Du bist ein schmuddeliges kleines Gör, kein Zweifel, aber die Ähnlichkeit ist nicht zu übersehen.« Ehe Eliza die erfreuliche Feststellung, dass sie ihrer Mutter ähnelte, verdauen konnte, hörte sie oben auf der breiten Treppe ein Geräusch. Mr Thomas zuckte zusammen und straffte die Schultern. Dann gab er Eliza einen sanften Schubs, und sie stolperte allein über die Schwelle in einen großen Raum mit weinroter Tapete und einem knisternden Feuer im offenen Kamin.
Auf den Tischen flackerten Gaslampen, denen es jedoch trotz all ihrer Mühe nicht gelang, den riesigen Raum ausreichend zu erhellen. Dunkelheit wisperte in den Ecken, Schatten huschten über die Wände. Hin und her, hin und her …
Ein Geräusch von hinten, und die Tür ging abermals auf. Ein kühler Luftzug ließ das Feuer im Kamin flackern. Gezackte Schatten tanzten über die Wände.
Erwartungsvoll drehte Eliza sich um.
Eine Frau, groß und dünn wie eine in die Länge gezogene Sanduhr, stand in der Tür. Ihr langes, eng anliegendes Seidenkleid war tiefblau wie der nächtliche Himmel.
Neben ihr stand ein riesiger Jagdhund. Er tänzelte unruhig auf seinen langen Beinen und drückte sich an ihren Rock. Hin und wieder hob er seinen schmalen Kopf und rieb ihn an ihrer Hand.
»Miss Eliza«, verkündete Mr Thomas, der der Frau in den Raum gefolgt und abwartend hinter ihr stehen geblieben war.
Nachdem die Frau Eliza eine ganze Weile schweigend gemustert
hatte, sagte sie in einem herablassenden Tonfall: »Ich werde morgen mit Newton sprechen müssen. Sie ist eine halbe Stunde später als erwartet eingetroffen.« Die Frau sprach so langsam und dabei so bestimmt, dass Eliza die scharfen Kanten ihrer Worte spüren konnte.
»Jawohl, Mylady«, sagte Thomas errötend. »Soll ich jetzt den Tee servieren, Mylady? Mrs Hopkins hat …«
»Nicht jetzt, Thomas.« Ohne sich umzudrehen, wedelte sie kurz mit ihrer bleichen, schmalen Hand. »Sie müssten doch wissen, dass es für Tee viel zu spät ist.«
»Sehr wohl, Mylady.«
»Wenn sich herumsprechen würde, dass auf Blackhurst Manor der Tee nach fünf serviert wird …« Ein gepresstes Lachen, das Glas hätte zerspringen lassen können. »Nein, wir werden auf das Abendessen warten.«
»Im Speisesaal, Mylady?«
»Wo sonst, Thomas?«
»Soll ich für zwei decken, Mylady?«
»Ich werde allein speisen.«
»Und Miss Eliza, Ma’am?«
Die Tante atmete scharf ein. »Ein leichtes Abendessen.«
Elizas Magen knurrte. Sie konnte nur hoffen, dass zu ihrem Essen ein bisschen warmes Fleisch gehören würde.
»Sehr wohl, Mylady«, sagte Mr Thomas und zog sich mit einer Verbeugung zurück.
Die Tante holte tief Luft und schaute Eliza an. »Komm her, Kind. Lass mich dich ansehen.«
Eliza gehorchte, trat vor die Tante und bemühte sich, ihren Atem zu beruhigen.
Aus der Nähe betrachtet, war die Tante sehr schön. Es war eine Art Schönheit, die in Einzelheiten deutlich zur Geltung kam, aber durch den Gesamteindruck wieder beeinträchtigt wurde. Ihr Gesicht wirkte wie gemalt. Haut so weiß wie Schnee,
Lippen so rot wie Blut, die Augen blassblau. In ihre Augen zu schauen war, als würde man in einen Spiegel sehen, auf den ein Lichtstrahl gerichtet ist. Ihr dunkles Haar war glatt und glänzend und oben auf dem Kopf zu einem kunstvollen Knoten zusammengefasst.
Die Wimpern der Tante zuckten kaum merklich, während sie Elizas Gesicht musterte. Kalte Finger hoben Elizas Kinn, um einen noch besseren Blick auf sie zu bekommen. Eliza, unsicher, wo sie hinsehen sollte, blinzelte in die undurchdringlichen Augen der Tante. Der riesige Hund, der immer noch neben der Tante stand, hechelte warmen, feuchten Atem gegen Elizas Arme.
»Ja«, sagte die Tante. Ein Nerv zuckte an ihrem Mundwinkel. Es war, als beantwortete sie eine Frage, die niemand gestellt hatte. »Du bist ihre Tochter. Völlig heruntergekommen, aber du bist ihr Kind.« Sie schauderte kaum merklich, als eine Bö den Regen gegen die Fenster prasseln ließ. Das schlechte Wetter hatte sie eingeholt. »Wir können nur hoffen, dass du nicht den gleichen Charakter hast wie sie. Dass wir, wenn wir zur rechten Zeit mit deiner Erziehung beginnen, ähnliche Neigungen im Keim ersticken können.«
Eliza fragte sich, was das für Neigungen
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