Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
Blick auf ihre rechte Seite, dann tauchte ich aus meinem eigenen Blickfeld auf ihr linkes Bein zu.
Sie durchbrach mühelos meinen Angriff und gab mir einen Klaps auf den Kopf, um zu zeigen, wo der Schlag mich getroffen hätte.
»Das Merkwürdige an dir, Green«, sagte sie, diesmal wieder im Gesprächston, »ist, dass du dich so gut verteidigen kannst, aber beim Angriff Probleme hast.«
Ich sprang auf. »Ich lernte in einer anderen Schule, Mutter.«
»Hat man dir überhaupt Kämpfen beigebracht?«
»Nein«, gestand ich ein. Ich war dieser peinlichen Frage bisher ausgewichen. »Ich habe gelernt, den Angriff abzuwehren und zu fliehen.«
»Ah.« Sie sah mich nachdenklich an. »Ich werde mit Mutter Anai reden. Wir werden einen Weg für dich finden. Du bist so stark und schnell wie jede andere Klinge, die wir je trainiert haben. Es fehlen lediglich noch bestimmte Pfeile in deinem Köcher.«
Obgleich ich damals keine Ahnung hatte, was es für mich bedeuten würde, sah ich die Liliengöttin in diesen Monaten zum ersten Mal. Wir knieten jeden Abend bei Sonnenuntergang zum Gebet nieder, außer wenn etwas Dringendes dazwischenkam. Es gab jeden Tag Gottesdienste, in denen die Priesterinnenanwärterinnen fast ihre ganze Zeit verbrachten. Die Teilnahme der Klingen und ihrer Anwärterinnen wurde montags und freitags erwartet. Montag ist natürlich der Tag des Mondes, und der Mond beherrscht die Frauen während der Mutterschaft. Freitag ist der Tag der Göttin und der Schönheit und damit der Jugend geweiht.
An gewöhnlichen Tagen, an denen keine Festlichkeit oder Huldigung stattfanden, kam die Tempelmutter – eine alte Frau mit weißem Haar und für eine Selistani seltsam blassen Augen – oder eine ihrer rangältesten priesterlichen Mütter im Morgengrauen in das Allerheiligste, um im heiligen Kreis den Altar zu segnen. Der Altar selbst war eine große, halb geöffnete Silberlilie mit einem Durchmesser von sechs Fuß. Das Allerheiligste stand im Herzen des Tempelgebäudes, und das spitz zulaufende Dach befand sich hoch über den kreisrunden Wänden. Bankreihen erhoben sich an den Wänden so steil, dass wir Anwärterinnen auf die Köpfe der Frauen unter uns blicken konnten.
Dabei wurde immer viel gebetet und Räucherwerk verbrannt, und dann sprach die Tempelmutter am Altar zur Liliengöttin. In den ersten Wochen hielt ich das nur für eine andere Art Gebet. Aber an einem Montag kam während des Gottesdienstes ein Wind im Altarraum auf. Er fuhr in die Seiten der Gebetsbücher, die ich nicht lesen konnte, denn die verschnörkelte Seliuschrift war damals noch ein Rätsel für mich. Er zerrte an Haaren und Ärmeln und brachte die Gesänge ins Stocken.
Es war ein Wirbelwind, der um die Tempelmutter kreiste. Sie schien größer und größer zu werden, bis sie uns alle überragte. Das nahm ich wahr, obgleich meine Augen sie zur selben Zeit deutlich wie immer vor der Silberlilie stehen sahen.
Ihre donnernde Stimme hätte Stein erbeben lassen müssen. Die Göttin sprach Worte, die nicht mir galten, sondern die Gerechtigkeit für ein Haus betrafen, dessen Namen ich damals noch nicht kannte. Der Klang ihrer Stimme hallte in meinem Kopf wider, schmerzte in den Knöcheln meiner Finger und ließ den Stein der Bank erzittern, auf der ich saß.
Ich sagte nichts, als die Gebete fortgesetzt wurden, aber als wir nach dem letzten Loblied aufstanden und uns auf den Weg nach draußen machten, stupste ich Samma an. »Das war wirklich seltsam.«
Sie schob lächelnd meine Hand zur Seite. »Was?«
»Wie die Göttin …« Ich brach ab, als ich ihren verständnislosen Blick sah. Ihr war nicht nur nichts aufgefallen, sie schien gar nicht zu begreifen, was ich ihr sagen wollte.
Später suchte ich Mutter Vajpai auf. Wir neun nahmen das Mittagessen unten im Speisesaal ein, aber ich hatte mich abgesetzt, um sie in einem ruhigen Moment zu erwischen. Ich fand sie in einem der öffentlichen Büros, dort überprüfte sie zusammen mit dem Schatzmeister des Hofes der Stare einige Abrechnungen. Dieser Hof war zuständig für den Handel mit Stoffen und Lederwaren und betreute diese Händler und ihre Kasten innerhalb Kalimpuras in Rechtsfragen, Bankgeschäften und Verordnungen, ebenso auch die Färber, Schreiber und die kleineren Spielzeugmacher.
Als der alte Mann gebeugt aus dem kleinen Zimmer stapfte, nickte mir Mutter Vajpai zu. Ich erhob mich von der Bank im Korridor, wo noch andere Vorgeladene und Bittsteller warteten, und trat ein.
»Was ist los,
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