Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
gewesen, während ich mich erst an die Gesellschaft anderer Menschen gewöhnen musste.
In diesen Stunden spürte ich, dass sich mein Zorn zurückzog. Das Feuer in mir erlosch nie, aber wenn es früher ein Strom gewesen war, der über mich hinwegwogte, so war es nun ein tiefer Teich. Ich wusste, wo sich das Reservoir befand und dass es wieder erwachen würde, doch ich spürte nun ein Gefühl des Friedens, wie ich es noch nie gekannt hatte, abgesehen vielleicht von ein paar Augenblicken an Bord der Südlichen Freiheit , als ich aus Copper Downs floh.
Selbst die Furcht war fast verschwunden. Und in jener Nacht, als Sammas Küsse ernst wurden, schmolz diese Furcht vollkommen dahin, als sich unsere Hände fanden und meine Hüften zu beben begannen.
Eine Weile zumindest beherrschte mich der Zorn nicht mehr.
Mutter Vistha trainierte uns in der »Nachtarbeit«, wie sie es nannte. Sie war recht zufrieden mit meinen Fähigkeiten beim Klettern, Springen und Laufen in fast völliger Dunkelheit. »Die Klingen haben viele Aufgaben«, sagte sie mir eines Nachts auf dem Dach eines leeren Lagerhauses im Hafen, nachdem wir beide die Außenwand hochgeklettert waren. »Einige von ihnen treten mit blanker Waffe auf. Die meisten arbeiten in aller Stille.«
»Sie brechen in Häuser ein?«
»Ja, aber wir dringen üblicherweise in Geschäftsräume ein. Wir sind keine Diebe.« Sie schnaubte verächtlich. »Du würdest überrascht sein, wie oft Leute versuchen, Unterlagen vor uns geheim zu halten. So ist es immer wieder notwendig, Akten, Rechnungsbücher und dergleichen sicherzustellen. Es wird im Allgemeinen als sehr hilfreich erachtet, wenn die Klinge, die diese Arbeit verrichtet, deren Zweck auch versteht.«
»Dann passieren weniger Fehler, schätze ich.«
»Oh ja. Und du bist ein Naturtalent in Gebäuden. Mit deinen, ah, Gesichtsmerkmalen wirst du bald in der Nachtarbeit eingesetzt werden, denke ich. Ich werde dir die Zufluchtsstätten alle zeigen, sodass du weißt, wo du Hilfe und Unterschlupf findest, wenn du in Schwierigkeiten gerätst. Du bist zu auffällig im Tageslicht. Nur in der Nacht kannst du dich unauffällig bewegen.«
»Oder mit einer Maske.«
»Oder mit einer Maske. Aber das wäre gegen die Würde unseres Ordens.«
»Mmm.«
Sie beugte sich näher. »Man hat mir gesagt, dass Blut an dir ist.«
»Blut?«
»Dass du ein Leben genommen hast.«
»Zwei«, erwiderte ich kurz. Ich hatte längst beschlossen, meine Rolle beim Untergang des Herzogs von Copper Downs für mich zu behalten; nicht nur hier, vor diesen Menschen, sondern überall.
»Es kommt vor, dass die Nachtarbeit es erforderlich macht, ein Leben zu nehmen.«
»Mord in der Nacht.«
Mutter Vistha ignorierte meine Bemerkung. »Nur wenn es notwendig ist.«
»Ich … ich tötete einmal aus Verzweiflung. Und einmal in Selbstverteidigung.« Der Herzog war schon tot gewesen, bevor ich in seine Nähe kam.
»Green«, sagte sie sanft. »Du bist noch ein Kind von dreizehn Sommern. Es gibt erwachsene Männer, bewaffnete Männer, die diese Dinge nicht tun könnten.«
»Ich brachte Schande über mich und meine Lehrerinnen.« Als ich diese Worte sagte, erkannte ich, dass sie der Wahrheit entsprachen. Wie immer falsch auch diese Erziehung sein mochte, die Mistresses im Haus des Faktors waren meine Lehrerinnen gewesen, jede hatte mich auf ihre Weise gelehrt.
»Es ist keine Schande, das Werk der Göttin zu vollbringen. Hier in Kalimpura sind es die Klingen, die dafür sorgen, dass für das Tötungsrecht bezahlt wird. Ihr Werk. Unser Werk.«
Ich spürte Wut wie eine dunkle Wolke vor der Sonne aufsteigen. »Dann soll ich also durch das Fenster zu einem Ladenbesitzer einsteigen und ihn auf seinem Stuhl erstechen?«
»Schon möglich. Wenn dieser Mann seinen Bruder umgebracht hat, um dessen Geschäft zu übernehmen, und sich dann weigerte, sich vor seiner Gilde und dem Gericht zu verantworten.«
Es ergab Sinn, was sie sagte. Nach kalimpurischem Verständnis war das Gerechtigkeit. Töte unter Missachtung des Tötungsrechtes, und du wirst zur Rechenschaft gezogen. Verbirg die Tat oder entziehe dich den Konsequenzen, dann wird dir irgendwann die Rechnung präsentiert. Mit Zinsen, durch die Hand einer Lilienklinge.
Das war nicht die ganze Arbeit des Ordens. Manches lag außerhalb des sonderbaren Rechtssystems der Stadt. Menschen an ihre Verpflichtungen zu erinnern, Erbstücke und Schätze aus einem verschlossenen Raum in einen anderen zu verfrachten, Gesetzlose wieder zu
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