Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
und Zugehörigkeit als Lohn für meine Fähigkeiten.«
»Ja.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln. »Deine Fähigkeiten. Es gibt nie genug Mädchen in einer Generation, wie sie der Tempel braucht. Nicht am Altar, nicht in den Heilungskammern, nicht bei den Justiziaren. Besonders nicht bei den Klingen der Lilie.«
»Einmal zu töten ist hart«, wiederholte ich Mutter Meikos Worte. »Wieder zu töten ist leichter. Beim dritten Mal wird es zur Gewohnheit. Die meisten eurer Mädchen gehen nie den harten Weg, nicht wahr?«
»Nein.« Sie seufzte. »Es sind die Klingen, die das Tötungsrecht überwachen.«
Ein Gedanke kam mir bei diesen Worten. »Wer überwacht die Klingen?«
»Nun, meine Liebe …« Mutter Vajpai lächelte. »Das tue ich.« Nach diesen Worten schoss ihr Fuß mit einem Kick auf mich zu, gefolgt von einer wirbelnden Bewegung, die in einen Handkantenschlag mündete.
Ich war einen Monat zu Fuß unterwegs gewesen und hatte davor einen Monat auf einem Schiff zugebracht, aber die Jahre davor hatte mich die Tanzmistress geschult. Ihre Lehren waren mir in Fleisch und Blut übergegangen. Ich glitt unter ihren vorschnellenden Fuß und duckte mich vor dem Hieb zur Seite, bevor ich mich gegen ihr Standbein warf.
Tritt niemals, außer du hast keine andere Wahl, hatte die Tanzmistress gesagt. Du bist zu leicht zu Fall zu bringen, wenn du keinen festen Stand hast.
Mutter Vajpai war sich zu sicher gewesen. Der Griff meines eingewickelten Messers schlug an die Seite ihres Knies, während ich mein ganzes Gewicht gegen ihren Knöchel warf.
Sie ging hart zu Boden, behindert von ihrer roten Seide, aber irgendwie konnten mich ihre Finger am Ohr packen. Wir rollten und kamen an einigen Kissen am Boden zu liegen. Die Spitze einer schmalen Klinge drückte gegen meinen Hals, während sich die Finger ihrer anderen Hand schmerzhaft an meinem Ohr festkrallten.
»Sehr gut«, flüsterte sie. Mein Ohr brannte vom Druck ihrer Nägel. Das Messer an meinem Hals schmerzte. »Kein neues Mädchen hat mich je bei der ersten Lektion zur Fall gebracht. Aber du bist nicht wirklich ein neues Mädchen, nicht wahr?«
»Es ist mir in Fleisch und Blut übergegangen.«
»Dann kannst du noch viel mehr lernen. Das ist genug.« Sie ließ mich los. »Bleibst du bei uns?«
»Ich habe keinerlei Ziel«, erwiderte ich rundheraus, während ich von ihr wegrollte.
»Jetzt hast du eines.« Mutter Vajpai erhob sich mit einer fließenden Bewegung, die ich nicht zustande brachte. Ich konnte jedoch sehen, dass ihr Knie sie schmerzte. »Du bist eine von uns.«
Ich würde kein Werkzeug sein. »Muss ich einen Schwur leisten?«
»Jetzt noch nicht. Die Zukunft wird es zeigen. Geh mit Samma. Sie wartet draußen. Sie zeigt dir die Schlafräume und stellt dich den unterrichtenden Müttern vor.
Ich zupfte mein bleiches Gewand zurecht und sagte: »Ich werde vor niemandem kuschen, nie wieder.«
»Geh, Green. Alles wird gut.«
Eine Weile war auch alles gut. Ich bezog Quartier bei den Anwärterinnen der Klingen der Lilie. Samma war meine Bett- und Tischgenossin und, im Wesentlichen, diejenige, die mich durch das Training, die gewundenen Korridore des Silbernen Tempels und die endlosen von Lobgesängen bestimmten Huldigungen an die Liliengöttin geleitete.
Im Grunde war es nicht viel anders als im Granatapfelhof im Haus des Faktors, nur dass es hier Licht in den Schatten gab. Während mich Mistress Tirelle völlig hinter den hohen Mauern isolierte, ließen die unterrichtenden Mütter uns neun Anwärterinnen, die wir gegenwärtig die Petalen durchliefen, immer zusammen.
Weitere Anwärterinnen wurden für die anderen Orden der Liliengöttin unterrichtet. Ich erfuhr bald, dass der Tempel Mädchen aus den großen Familien und Handelshäusern Kalimpuras und des übrigen Selistan aufnahm. Jedes verzichtete auf seine gesellschaftlichen Verpflichtungen und den familiären Reichtum, um sich ganz einem Leben für die Göttin zu widmen. Im Gegenzug wurden die Mädchen in großem Luxus untergebracht und durften traditionell männliche Künste wie das Heilen und die Rechtspflege erlernen.
Diese Mädchen waren Töchter der Hohen und Mächtigen, und sie waren sich dessen wohl bewusst. Die Heilungs- und Rechtsanwärterinnen hatten ihre Auftritte bei den Huldigungen und an Festtagen und manchmal auch bei Hofe in der Stadt. Im Gegensatz zu Copper Downs gab es in Kalimpura eine vernünftige Herrschaftsnachfolge, auch wenn das System für einen Außenstehenden
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