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Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Titel: Der verborgene Hof: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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den fertigen Klingen zugehen würde.
    Eines Tages holte mich Mutter Vajpai aus einem Unterricht über Hafenregeln und die Etikette bei Handelskapitänen. Es war der Monat von Shravana, was Anfang August in Copper Downs entsprach. Selbst nach zwei Jahren war der Kalimpurikalender für mich noch gewöhnungsbedürftig. Der Tag war schmelzheiß, so wie ich es aus meiner Kindheit in Erinnerung hatte. Selbst im Tempel der Silberlilie, wo die Architektur die wärmste Luft nach oben leitete, konnte man es kaum aushalten.
    Ich hatte mehr Zeit auf Schiffen verbracht als die ganze versammelte Klasse, inklusive Mutter Ashka, die das Thema behandelte, aber ich wusste, dass das nicht dasselbe war, wie mit einem Kapitän zu verhandeln. Meine Erfahrungen weckten eine Abneigung gegen ein Thema in mir, das andernfalls wirklich interessant gewesen wäre. Diese Abneigung, auch wenn sie falsch war, versetzte mich zusammen mit der Hitze in einen Zustand der Gereiztheit und Zerstreutheit.
    Kurzum, ich war heilfroh, dem Klassenraum entfliehen zu können.
    »Mutter«, sagte ich und faltete die Hände, wie die Tempelfrauen es taten, um einander zu grüßen und die Göttin zu ehren.
    Sie erwiderte die Geste. »Green.«
    Obgleich einiges an Geduld, die Mistress Tirelle so verbissen in mich hinein geprügelt hatte, mit Einsetzen der Monatsblutungen verloren gegangen war, folgte ich Mutter Vajpai stumm und wartete, dass sie das Wort ergriff.
    Zu meiner Überraschung führte sich mich durch ein Seitentor hinaus auf die Sechskarrenstraße. Wir folgten dem Verkehrsstrom. Ich verglich meinen jetzigen Eindruck mit dem Mob, den ich bei meiner Ankunft in Kalimpura gesehen hatte. Damals sah ich ein Durcheinander von schreienden Händlern, brüllenden Tieren und einem großen Strom von Menschen; jetzt empfand ich sie als Gefahren, als Gewalten, als Probleme und Möglichkeiten.
    Ich begegnete einer Reihe von Kindern der Oberen Kehrerkaste mit ihren Salzgrasbesen und hell gefärbten Säcken. Ihre Kaste hatte das verbriefte Recht auf den Dung bestimmter Tiere, und sie würden nicht zögern, ein großes Geschrei anzustimmen, sollte sich ein Bettler mit einer Hand voll Elefantenmist davonmachen. Ein Händler aus dem Hof der Reiher kam uns mit seiner silbernen Vogelspange am Hut entgegen. Zu seinen Privilegien gehörte der Handel mit Glas und mehr als drei Tage alten Lebensmitteln. Hinter ihm stolzierte ein Trupp Wachleute der Straßengilde, um die Dinge von Wert zu schützen, die er bei sich trug. Dahinter stritten sich zwei Obstverkäufer darüber, welcher ihrer Karren die Vorfahrt hatte.
    In zwei Jahren hatte ich gelernt, all diese Leute und fast jeden in ihrer Umgebung abzuschätzen. Die Fremden, die Narren und die Verlorenen offenbarten sich meinem Blick wie Kerzen in einer Zisterne. Auf ähnliche Weise musste ich bei meiner Ankunft Meister Kareen aufgefallen sein und allen anderen, die den Blick auf mich richteten, als ich in die Stadt kam, nachdem er mich aus seiner Truppe ausgeschlossen hatte.
    Vielleicht wollte mir Mutter Vajpai zu der Erkenntnis verhelfen, dass ich hier zu diesen Menschen gehörte.
    Sie führte mich auf einem Fußweg hinab zur Avenue der Schiffe. Das war der Hafenabschnitt der Straße, die sonst innerhalb der Mauern im Kreis verlief. Wie immer war sie auf der Seeseite von einem Dickicht von Masten und Bugsprieten und einem gelegentlichen Schornstein gesäumt. Auf der Landseite gab es Lagerhäuser, Büros, Händlerwagen, Buden, Stände und Auslagen sowie die allgegenwärtige Menschenmenge.
    »Ein Schiff ist eingelaufen.« Mutter Vajpai hob ihre Stimme auf die Art, wie wir es im Tempel lernten, um gehört zu werden.
    Sie war endlich an den Grenzen meiner Geduld angelangt. »Hundert Schiffe haben angelegt, Mutter.«
    »Dann kannst du mir vielleicht sagen, welches Schiff heute mein Interesse weckt?«, fragte sie im freundlichsten Ton.
    Ich sah genau hin und ließ meinen Blick rasch darübergleiten, als wollte ich einen Granatapfel auswählen in dem Moment, als mir die Augenbinde abgenommen wurde. Das Geheimnis bestand darin, den Blick für sich denken zu lassen, und danach mit dem Verstand zu prüfen. »Arvanis Pier.« Ich war nicht sicher, was ich gesehen hatte, aber irgendetwas hatten meine Augen entdeckt. Dann erkannte ich eine Flagge von Copper Downs zwischen den Masten. »Ein Schiff von der Steinküste.«
    »Mmm.«
    Wir setzten schweigend unseren Weg zu Arvanis Pier fort. Ich hoffte, dass sie schwieg, weil ich das Richtige gefunden

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