Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
Schafshaut saß, auf das ich mit farbiger Tinte gezeichnet hatte. »Diese Nordländer haben die seltsame Vorstellung, dass ein einzelner Mann die ganze Macht haben sollte. Was ist, wenn er zu korrupt wird? Oder den Verstand verliert? Wenn alles auf einem einzigen Thron ruht, fällt auch alles mit einem einzigen Thron.«
»Wir haben einen Prinzen der Stadt.« Ich deutete auf das Siegel einer kleinen Krone auf meiner Zeichnung.
»Du vermagst sehr geschickt zu zeichnen, meine Liebe«, erwiderte Mutter Vajpai. Sie strich mir über das kurze, struppige Haar, das ich jetzt immer so trug. »Aber der Prinz der Stadt herrscht über niemanden und nichts. Er verleiht Kalimpura ein Gesicht für all jene Ausländer, denen es schwerfällt, uns nicht als Wilde zu sehen, wenn sie nicht irgendein gekröntes Haupt vor Augen haben.«
»Aber sein Name steht auf unseren Handelsverträgen und Gildenurkunden.«
»Der arme Kerl muss doch irgendetwas mit seiner Zeit anfangen.«
Ich fuhr mit dem Finger das Pergament hinab. Es gab die Höfe, die nicht so schwer zu verstehen waren. Ich sah sie als kleine Regierungen innerhalb der Stadt, die für Gruppen von Menschen verantwortlich waren und nicht für Landgebiete nach nördlichem Muster. Die Gilden waren problematischer. Das Wort war irreführend, denn es hatte nicht dieselbe Bedeutung wie das petraeanische Wort in der Übersetzung. Natürlich kontrollierten sie ihren Handel, aber sie herrschten über weitaus mehr als das. Zum Beispiel entschieden sie über Streitigkeiten auf denjenigen Straßen, wo ihre Handelshäuser und Fabriken standen. Kasten waren zudem für verschiedene Gewerbe zuständig und herrschten auch über einzelne Familien. Man konnte beispielsweise von einer Gilde protegiert und in eine aufgenommen werden, aber in eine Kaste wurde man hineingeboren. Die Höfe hatten etwa die Funktion einer Kaste für die ganz Reichen und Mächtigen, aber auch in sie konnte man durch Protektion gelangen, was sie wieder mehr in die Nähe einer Gilde rückte.
»Alle nutzen irgendwie ihre Zeit.« Ich rollte das Pergament zusammen. »Niemand ist untätig in Kalimpura. Nicht einmal das kleinste Bettlerkind.«
»Auch nicht die streitbarste Anwärterin für die Klingen der Lilie.« Ihre Hand lag fest auf meiner Schulter. »Du wirst nie wirklich eine Kalimpuri sein, Green. Aber du wirst dich mit der Zeit anpassen.«
»Ich bin eine Selistani«, sagte ich ruhig. »Das ist mein Volk, auch wenn ich in ihren Augen keine von ihnen bin.«
»Wir sind alle Töchter der Göttin.«
Das letzte Petalum der Klingen begann ich in meinem vierzehnten Sommer. Jappa hatte vor kurzem den Eid der Klingen abgelegt und unseren Schlafraum verlassen. Rainai stand kurz davor. Das nächstälteste Mädchen war Chelai, sie war nicht sehr kräftig und hatte Höhenangst; wahrscheinlich würde sie nie eine Klinge werden. Dann kam ich.
Ich war auch nicht die Letzte, denn zwei kleine Mädchen waren aus der Tempelkinderstube gebracht worden. Ello und Klein Rainai, vier und fünf Sommer alt, waren nicht viel älter als ich zu der Zeit, als ich in das Haus des Faktors kam. Ich verbrachte Zeit mit ihnen und versuchte, in ihren kleinen runden Gesichtern mich selbst wiederzuerkennen. Anfangs erschreckten sie meine Narben, aber wir wurden doch so etwas wie Freundinnen.
Wenn eine oder manchmal beide mitten in der Nacht weinten, dann kamen sie zu mir ins Bett. Dann drehte sich Samma mit einem mürrischen Seufzen von meiner Schulter weg. Die kleinen Mädchen kuschelten sich an mich. Sie zu trösten war mehr, als je jemand für mich getan hatte.
Alles was ich über ihre Herkunft erfahren konnte, war, dass Ello als Findelkind vor dem Elfenbeintor gelegen hatte. Niemand erzählte mir etwas über Klein Rainai, aber ich fand Hinweise darauf, dass man sie von einem Schauplatz der Gewalt fortgeholt und hergebracht hatte. Ob wir verantwortlich waren oder jemand anderer, wusste ich nicht, aber ich dachte unwillkürlich wieder an Mutter Visthas Worte über einen Vater und sein Kind im Kerzenlicht.
Eine Weile zählten wir zehn, bis Rainai aufstieg. Alles, was ich noch brauchte, war mein letztes Petalum und damit die notwendige Reife, um ihr und Jappa in die Räume der Klingen der Lilie nachzufolgen – einen Ort lautstarker Randale und Ausschweifung, wenn man dem Klatsch der Mütter der anderen Orden Glauben schenken wollte.
Nach den nächtlichen Erfahrungen, die ich in unserem Schlafraum gemacht hatte, war ich ziemlich neugierig, wie es bei
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