Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
Frau, Mistress Roxanne, brachte Schatullen mit Steinen und Edelsteinen und farbigen Karten, um mich in Juwelenkunde zu unterrichten. Sie war schlank, schlau und redete viel.
Je besser ich lesen konnte, desto breiter gefächert wurde meine Lektüre. Damals erschien mir die Auswahl an Themen völlig planlos, doch später begriff ich das Schema, nach dem Mistress Danae die Bücher auswählte. Keine jüngere Geschichte, nichts über die Stadt Copper Downs und schon gar nichts über den Herzog, über dessen Namen und Existenz ich damals nicht mehr als Gerüchte vernommen hatte.
Die größten Anstrengungen forderte die Tanzmistress von mir. Sie trieb mich während des Tages an. Wir übten Bewegung, Haltung und Balance. Sie brachte einen Taktgeber auf einem kleinen Gestell mit, der den Rhythmus meiner Bewegungen bestimmte. Dann wurden gepolsterte Bänke und Schwebebalken in den Übungsraum gebracht. Sie erklärte mir, wie sich meine Muskeln und Knochen in den nächsten paar Jahren entwickeln würden und dass es notwendig war, sie jetzt zu kräftigen, weil das dazu beitrüge, dass sie später kraftvoll blieben.
Nach der ersten Periode von Abendläufen kam sie nie mehr früh am Tag zurück, wenn Mistress Tirelle ihren Besuch erwartete. Stattdessen ließ die Tanzmistress an den Tagen vor unseren nächtlichen Läufen einen Fetzen schwarzen Stoffs auf der einfachen Bank im Übungsraum liegen. Sobald Mistress Tirelle tief und fest schlief, schlüpfte ich in meinem grauwollenen Überwurf hinaus, kletterte auf den Granatapfelbaum und zog meine schwarzen Sachen an. Ausnahmslos wartete sie bereits auf mich, wenn ich wieder unten ankam. Ich reichte der Tanzmistress den Fetzen Stoff, und wir begannen mit unserer Arbeit zur Überwindung der Mauern.
Wir liefen viel. Ich kletterte, rollte, fiel, wirbelte, sprang. Wir benutzten den Wehrgang auf der Außenmauer, maßen Entfernungen, die ich im Sprung überwinden konnte. Bald war die Stadt jenseits ein gewohnter Anblick für mich, und ich fragte mich, wann ich mehr zu sehen bekäme.
»Warum laufen wir oben auf der Mauer?«, fragte ich sie eines Nachts im Spätfrühling, als sich der Nordlandsommer ankündigte. Selbst zu dieser späten Stunde war die Luft noch warm von der Sonne. »Hat der Faktor keine Wachen?«
Wir sprachen, während wir kletterten und die Suche nach den Spalten in den äußeren Steinen der Hofmauern übten.
»Niemand würde es wagen, in einen Hof das Faktors einzudringen. Nicht einmal ein betrunkener und verzweifelter Dieb.«
»Aber man kann uns von der Straße aus sehen.«
»Niemand da draußen blickt herein. Selbst wenn man uns sähe, wer könnte wissen, wer wir sind? Wem würden sie es erzählen?«
»Die Mistresses kommen und gehen.«
»Hast du jemals eine Mistress in der Nacht kommen oder gehen gesehen? Abgesehen von mir?«
Ich überlegte. »Nein – nein, das habe ich nicht.«
»Bedenke, dass diese Tore schwer und unüberwindlich bewacht sein könnten.«
»Dann kann niemand sie passieren? Selbst die Freunde des Faktors nicht?«
Die Tanzmistress lachte. »Allerdings. Und das macht die Wachen faul. Da es ihnen unter Androhung von Schmerz und Blendung und Tod nicht erlaubt ist, in die Höfe zu blicken, beobachten sie auch nicht, was wir tun.«
Wie Federo gesagt hatte: Abgesehen von ihm würde ich nur Frauen kennen.
Eines Nachts war unser Lauf anders.
Ich stieg frisch umgekleidet vom Baum. Meine Schenkel schmerzten vom Reiten auf einem fremden Pferd an diesem Tag. Ich war noch immer zu klein, um auch nur annähernd bequem mit gespreizten Beinen oben sitzen zu können. Die Tanzmistress erwartete mich bereits mit zuckendem Schwanz.
»Mistress«, sagte ich und senkte den Kopf, während ich die Hände um Sprecherlaubnis faltete.
»Ich zähle jetzt. Wenn ich bei zwanzig bin, musst du den Wehrgang auf der Außenmauer erreicht haben.«
Ich rannte schnell und leichtfüßig, wie sie es mir beigebracht hatte. Es gab weder Nebel noch Nieselregen in dieser Nacht, sodass ich mich sicher bewegen konnte. Ich nahm nicht die Treppe – schon aus Stolz, aber auch, um Mistress Tirelle nicht zu wecken. Stattdessen kletterte ich die Mauer am Ostende des Granatapfelhofhauses hoch und erreichte das Kupferdach. Dann stieg ich das letzte Stück nach oben.
Ich hatte bis sechzehn gezählt.
Einen Augenblick später war die Tanzmistress an meiner Seite. »Das nächste Mal musst du es bis 15 schaffen.«
»Ja, Mistress.«
Sie führte mich auf die Außenmauer und bedeutete mir,
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