Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
am lautesten, wenn sie am tiefsten schlief. Ich selbst dachte nicht an Schlaf. Zu viel spukte mir im Kopf herum, und wie geplant hinderte mich mein Drang nach dem Nachttopf daran, ins Land der Träume zu sinken.
Ich stand auf, erledigte, was notwendig war, und trat hinaus auf den Balkon. Ich schlich an Mistress Tirelles Tür vorbei. Sie hatte eine Glöckchenschnur am Kopfende der Treppe angebracht, aber ich glitt über das Geländer und an der Außenseite nach unten.
Ich erreichte die Veranda, ging zum Granatapfelbaum und kletterte empor. Die Stoffbündel befanden sich natürlich noch dort, wo ich sie angebracht hatte. Niemand außer mir besaß hier den Willen oder die Fähigkeit, den Baum hochzuklettern, abgesehen von der Tanzmistress selbst. Ich sammelte die Bündel ein und glitt hinab. Hinter dem Stamm, auf der vom Hof abgewandten Seite, blieb ich stehen.
Ich öffnete die Bündel und fand elastische, eng anliegende Beinkleider, eine Jacke und eine kleine Tasche, die sich nach einem Augenblick als Kapuze entpuppte. Sie waren aus schwarz gefärbter Baumwolle.
Ich stieg in die Hose, zog den Bund über meinen Kittel und schlüpfte in die Jacke. Die Kapuze fühlte sich seltsam an, doch ich stülpte sie über den Kopf. Halb erwartete ich, dass die Tanzmistress aus dem Schatten treten würde, doch das geschah nicht. Ich wartete einen Moment und fühlte mich ein wenig töricht, dann begann ich, um den Hof zu laufen. Lautlos wollte ich sein, also bewegte ich mich so leise ich konnte. An jeder Ecke sprang ich meinen Salto. Ich rannte unter dem Licht der Sterne, denn der Mond war nur noch eine dunkle Scheibe, und hielt nicht inne, obgleich meine Beine und mein Rücken schmerzten.
Als ich nach der Rolle an der dritten Ecke zwischen dem Tor und der Gerätetruhe auf die Beine kam, lief die Tanzmistress neben mir im gleichen Schritt. Ihr Fell war dunkel im Sternenlicht, und ihr Gesicht wirkte todernst.
»Mistress«, sagte ich keuchend. »Du hattest Recht. Ich wusste, wann ich dich treffen würde.«
Die Tanzmistress nickte. »Ich will dir etwas Neues zeigen.«
Ich folgte ihr, als sie die Säule am Westende der Veranda emporkletterte. Wir erreichten das Kupferdach und liefen über die Blausteinmauer dahinter zu der breiten, flachen Brustwehr, die ich von der Spitze des Granatapfelbaumes gesehen hatte.
Die Straße lag offen unter uns. Es drangen schon während des Tages keine Geräusche über die Mauer, aber jetzt um diese Nachtstunde war sie vollkommen verlassen. Mein Blick fiel auf eine Häuserreihe. Ihre Fenster waren leere Augen unter den unregelmäßig hohen Dächern, nur da und dort leuchtete aus einem ein Funke von Leben. Dahinter ragten die großen Gebäude der Stadt in den Himmel, manche mit schimmernden Kupferdächern, andere mit glanzlosen Ziegeln. Manche hatten Türmchen und andere trugen Merkmale, die ich nicht benennen konnte, denn ich hatte bis jetzt keine Mistress, die mich in Architektur und dem Stadtleben unterrichtete.
Der Weg in die Freiheit lag vor mir.
»Darf ich jetzt gehen?«, fragte ich.
»Du bist zu jung«, erwiderte sie ernst. »Obgleich dein Verstand scharf und deine Schönheit noch vollkommen ist, vermagst du deinen Weg nicht allein zu gehen. Verweile hier und lerne auf unsere Kosten, aber in dem Bewusstsein, dass es einen Weg für dich gibt, wenn du ihn brauchst. Du wirst eines Tages vielleicht eine andere Wahl treffen.«
»Nein, das glaube ich nicht. Ich werde niemals wählen, jemandem ausgeliefert zu sein.«
»Selbst Vögel bauen ihre Nester zusammen.« Sie zog mich eine lange Weile an sich, dann gingen wir nach unten, um die Hilfsmittel meines neuen Geheimnisses zu beseitigen.
Als der Frühling voranschritt, wurden die Übungen anstrengender. Alle. In Mistress Leonies Textilunterricht erfuhr ich Dinge, die ich nie für möglich gehalten hätte. So lernte ich zum Beispiel das Einweben geheimer Botschaften in den Umhang eines Höflings. Nicht anders erging es mir mit Mistress Tirelle in der Küche. Irgendwann während eines Monats, den wir mit Soßenkochen verbrachten, entstand ein fast freundliches Einvernehmen zwischen uns in den Kochstunden. Sie fuhr noch immer aus der Haut, drohte mir und prügelte mich vom Herd fort, aber es war kein Vergleich mit früher.
Man erlaubte mir, mich auf ein Pferd zu setzen, lehrte mich, wie Damen ritten, und auch einiges von der Art und Weise, wie Männer ritten, sodass ich die Ausbildung und Fertigkeiten eines Reiters beurteilen konnte. Eine neue
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