Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
dass ich über den Rand blicken sollte. Die Straße lag etwa vierzig Fuß unter mir.
»Wie würdest du da hinunterkommen?«
Ich überlegte einen Moment. »Ich könnte an der Außenwand hinunterklettern, aber ich weiß nicht, ob sie glatt oder uneben ist oder wie weit die Mörtelrillen auseinanderliegen. Oder ich könnte dicht an den Steinen fallen. Ich glaube aber nicht, dass ich damit Erfolg hätte, denn es ist zu tief, um heil unten anzukommen.«
»Hmm.«
Ich blickte mich um. Wie ich schon so oft festgestellt hatte, verlief der Wehrgang entlang des Außenrandes des Hauses des Faktors. Wir hatten noch nie zuvor die Grenzen meines Hofes verlassen, auch wenn es auf dem Wehrgang kein größeres Hindernis zu überwinden gab als den Abstand von einem Schritt zum nächsten. »Jenseits der Grenze des Granatapfelhofes mag es vielleicht eine Möglichkeit geben.«
Ihre Stimme wurde zum Hauch eines Flüsterns. »Was wird passieren, wenn man dich außerhalb des Granatapfelhofes erwischt?«
»Mistress Tirelle würde mir die Zunge zerschneiden und mich als Wirtshaushure verkaufen. Der Faktor betreibt einen großen Aufwand, um sicherzustellen, dass ich hier im Verborgenen bleibe.«
Sie gab keine Antwort. Ich spürte ein plötzliches Frösteln, das nicht von der kalten Nachtluft herrührte. Was versuchten sie nur hier, aus mir zu machen? Abgesehen von Federos Andeutung, dass ich eine feine Dame werden sollte, hatte niemand je etwas gesagt. Was plante die Tanzmistress mit mir? Etwas, das Mistress Tirelle und deshalb vermutlich auch Federo und der Faktor nicht wollten.
»Ich lasse mich nicht benutzen«, flüsterte ich rau, dann rannte ich auf der Mauer ostwärts über die Grenzen meines Lebens hinaus.
Federo kam wieder und staunte über meine Größe. »Du bist gewachsen, während ich fort war«, sagte er mit einem ungezwungenen Lachen.
Damals hielt ich mich für klug. Einige der Lektionen über Schmuck und Kleidung waren in meinem Kopf auf fruchtbaren Boden gefallen. Dieser Mann war meine letzte Verbindung zu meinem Vater und Ausdauer und die einzige Person auf der Welt, die mir sagen konnte, wo ich zur Welt gekommen war. Er war an diesem Tag allerdings nicht entsprechend würdevoll gekleidet. Windzerzaust war er und sorglos. Er trug eine fremdartige pludrige Hose und ein Musselinhemd. Nicht gerade eine Respekt einflößende Erscheinung.
»Ich wachse«, sagte ich. »Und lerne.« Und zähle meine Glocken im Geheimen.
»Gut.« Er beugte sich herab und musterte mein Gesicht von der Seite, statt es wie früher am Kinn zu sich herumzudrehen. »Wie oft schlägt sie dich?«
»Nicht mehr so oft wie früher. Ich weiß jetzt, meine Zunge zu hüten, und kämpfe nur, wenn ich muss.«
»Gut. Ich hatte befürchtet, dass dich dein verbissener Freiheitsdrang in zu große Schwierigkeiten bringen würde.«
Diese Worte machten mir wieder bewusst, dass Federo nicht mein Freund war. Ein Freund hätte sich um mein Geschick Sorgen gemacht, nicht, ob mich meine Worte in Schwierigkeiten brachten.
»Was macht das Jagen und Fallenstellen?«, fragte ich mit demselben fiesen Unterton, wie ihn Mistress Leonie an den Tag legte, wenn sie nicht gerade über Stoffe und Kleidung sprach.
Federo wandte sich mit gequälter Miene ab. »Du hast ja keine Ahnung, Mädchen.«
Ich blickte ihm nach, und er tat mir nicht ein bisschen leid. Dieser Mann hatte mich aus meinem Leben und dem Schoß meiner Familie entführt. Sollte ich mich da schuldig fühlen, dass ihm meine Worte einen Moment lang weh taten? Er würde fortreiten, und ich blieb hier, unter dem wachsamen Auge und der harten Hand von Mistress Tirelle.
Ich schloss meine Augen und dachte an den Duft der Reisfelder unter dem Morgennebel, bis die Entenfrau auftauchte und mich für meine Frechheit bestrafte.
Als mir die Tanzmistress das nächste Mal während unserer täglichen Übungen das dunkle Stück Stoff reichte, war ich für einen Nachtlauf bereit. Ich wollte allen zeigen, wie sehr sie Unrecht hatten, wie armselig und böse sie gewesen waren. Noch immer waren Worte meine Waffen für die Flucht, aber wenn ich dabei auch ein paar harte Hiebe austeilen konnte, bevor ich den Granatapfelhof verließ, wäre das Balsam für mein wundes Herz.
Ich sprang vom Baum auf das Pflaster und sah, dass sie nicht da war. Ich erstarrte einen Augenblick halb in Panik. Dann entdeckte ich sie oben auf der Mauer. Ich raste über den Hof und kletterte schneller hinauf, als ich je gewesen war.
Sie sah mich kommen, fing
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