Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
der Dunkelheit. Sie bat mich, an einem verhältnismäßig sicheren Ort zu stehen, und verschwand dann mit meinem Leuchtmoder in der Hand. Ein oder zwei Minuten später hörte ich sie mit der Zunge schnalzen, einmal für jeden Meter Tiefe. Dann musste ich den Mut finden, an den Rand zu treten und blind zu springen.
Als wir es das erste Mal mit einer Tiefe von drei Metern versuchten, hatte ich entsetzliche Angst. Nach einer Weile fiel die Überwindung nicht mehr so schwer, auch wenn es nie leicht wurde. Ich lernte, einem Begleiter zu vertrauen, und ich lernte, in der Dunkelheit zu fallen.
»Du hast gelernt, Wände zu finden, indem du auf die Echos hörst«, sagte sie. »Ich werde dir beibringen, wie man die Tiefe auf dieselbe Art herausfindet, wenn du gelernt hast, sicher zu springen.«
Eine verrückte Übung, aber mir war längst klar geworden, dass ihr vor allem daran lag, die Grenzen meiner Leistungsfähigkeit ständig zu erweitern.
Ich stand auf einem Balkon. Ein niedriges Geländer befand sich einen Fuß vor mir, doch das wusste ich nur aus der Erfahrung. Die Tanzmistress schnalzte viermal; ein Satz, zwölf Fuß in die Tiefe. Das würde einen Sprung nach vorn mit einer vollen Rolle und einer Landung auf allen vieren erfordern. Den harten Aufprall im Stand konnte man mit den Händen gut abschwächen. Die Schuhe und Handschuhe schützten meine Haut bei diesen Übungen, aber ich konnte mir leicht einen Arm oder ein Bein dabei verstauchen.
Als ich zum Sprung ansetzte, berührte jemand meine Schulter. Ich schrie auf und stürzte auf die Steinbrüstung. Mein Angreifer beugte sich über mich.
Ich versetzte ihm einen Schlag mit der flachen Hand. Er wich mit einem keuchenden Laut zurück. Ich hörte die leisen Geräusche der heraneilenden Tanzmistress. Einen Augenblick später erschien der Schimmer des Moders.
»Ho«, sagte sie leise.
»Unnh …« Die Stimme des Fremden klang erstickt. Ich erkannte, dass er eine Hand auf sein Gesicht presste und dass er ein Mann war. »Du hast mir die Nadel gebochen!«
»Das ist das Mädchen, Septio. Mädchen, das ist Septio.«
»Sir«, sagte ich vorsichtig. Eine seltsame Furcht lähmte meine Zunge. Ich kam auf die Füße, behielt aber den Abgrund hinter mir gut im Gedächtnis. Wenn es zu Tätlichkeiten kam oder auch nur zu heftigen Worten, dann würde ich aus seiner Reichweite springen und den Fremden und die Tanzmistress den Streit allein austragen lassen.
»Es war nicht meine Absicht, dich zu erschrecken.« Seine Stimme klang noch immer merkwürdig. Da war ein neuer metallisch-salziger Geruch. So hört sich das also an, wenn sich die Nase eines Mannes mit Blut füllt, dachte ich.
Die Tanzmistress lachte unterdrückt. »Septio ist ein Hüter der Wege.«
Das klang wie ein Titel. Titel wurden in letzter Zeit viel diskutiert im Granatapfelhof. Ich wollte fragen, für wen und welche Wege, doch ich blieb still. In meiner Erfahrung ermunterte das die anderen zum Reden.
»Weißt du etwas von den Wegen, Mädchen?«, fragte Septio mit klarerer Stimme. Ich erkannte an ihrem Klang, dass er kaum älter als ich sein konnte. Ein Junge, allein hier unten in der Dunkelheit.
Die Tanzmistress berührte meine Schulter. »Sie stammt von jenseits des Sturmmeeres. Man hat ihr sehr viel beigebracht, doch ihr Wissen ist sehr … zielgerichtet. Die Wege stehen nicht auf dem Lehrplan ihrer Hüter.«
Ich hatte noch nie jemanden derart direkt über den Zweck meines Aufenthaltes im Granatapfelhof sprechen gehört.
Sie drückte meine Schulter fester. »Du darfst selbst antworten.«
Zu einem Fremden reden! »Die Sonne ist gleich heiß für jedermann«, sagte ich ihm in meiner eigenen, meiner alten Sprache. Das war eines der wenigen Dinge in meiner Erinnerung, die Papa gesagt hatte. Dann fügte ich in Petraeanisch hinzu: »Ich weiß nichts, Sir. Die Wege sind mir verborgen.«
»Die Wege sind den meisten Menschen verborgen.« Er nahm die Hand aus seinem Gesicht und holte tief und schnaufend Luft. »Du hast gute Reflexe.«
Er und die Tanzmistress tauschten Höflichkeiten aus, dann verschwand Septio in den lautlosen Tiefen.
»Das war ein Priester«, stellte ich schließlich fest.
»Sie sind im Allgemeinen nicht so jung.«
Eines Tages weckten mich Stimmen. Eine größere Zahl Frauen hatte sich im Hof versammelt. Sie stellten Stühle auf und suchten ihre Plätze im Licht der Morgendämmerung auf. Ich hatte noch nie so viele Menschen gleichzeitig im Granatapfelhof gesehen; nicht mehr als höchstens
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