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Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Titel: Der verborgene Hof: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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der petraeanischen Sprache und all dem Wissen, das wie ein Fluss durch die Tage meines Lebens strömte, ein bisschen mehr.
    Eines Tages vermochte ich nicht mehr, mich an meinen Namen zu erinnern. Ich war so lange schon nur mehr das »Mädchen« und hatte meinen Namen seit den ersten Jahren meines Lebens nicht mehr gehört. Das mag unglaublich klingen, doch ich befand mich zu dem Zeitpunkt bereits mehr als sechs Jahre im Granatapfelhof. Niemand hatte mich je anders als mit Mädchen angesprochen. Meinen wirklichen Namen, den geheimen Geburtsnamen, hatte ich nicht einmal in den ruhigen Stunden geflüstert, in denen ich mich an meine ältesten Geschichten erinnerte.
    Nur der Ochse Ausdauer war mir geblieben, dessen Name seine Kraft widerspiegelte. Auch die anderen Bilder aus jenen frühen Tagen – meine Großmutter und das Glockengeläute ihres Begräbnisses, die Frösche in den Wassergräben – waren deutlich. Doch sowohl die Worte als auch die Namen verschwanden wie Sand unter der Flut.
    In dieser Nacht weinte ich so heftig, dass mir das Schluchzen entfloh, bis ich hörte, wie sich Mistress Tirelle rührte. Sie tat es so geräuschvoll, dass ich mein Schluchzen schließlich unterdrücken konnte. Nach einer Weile wurde mir klar, dass das ihre Absicht gewesen war. Sie hatte mir eine Tracht Prügel erspart und mich meinen Tränen überlassen.
    War das eine Art Liebe?
    Die Frage ließ meine Tränen erneut rinnen, diesmal lautlos und zitternd.
    Nach und nach begannen wir, auf unseren Ausflügen in den Untergrund andere Leute zu treffen. Während die Dachwanderer schweigsam und für sich blieben, herrschte unter den Häusern und Straßen ein anderer Umgang. Wenn man sich im Untergrund zufällig begegnete, blieb man einen Moment stehen, um sich von seinem Gegenüber mustern zu lassen.
    »Auf diese Weise lernen wir unsere Feinde kennen«, erklärte die Tanzmistress nach einer solchen Begegnung. »Jemand, der nicht anhält, kann ebenso gut seine Klinge gegen dich richten. Die Tiere und Kreaturen ohne Verstand halten nicht an, deshalb weißt du, dass sie eine Gefahr bedeuten.«
    »Wie ist es mit Freunden?«
    »Es gibt keine Freunde hier unten.«
    »Nicht einmal wir beide?«
    »Das musst du selbst entscheiden, Mädchen. Ich bin, wer ich bin für dich.«
    Diese Bemerkung ging mir lange durch den Kopf.
    Einige Monate später begann die Tanzmistress bei bestimmten Begegnungen zu sprechen. »Mutter Eisen«, flüsterte sie eines Nachts.
    Die andere, eine kleine Frau, die ich nur als Silhouette ausmachen konnte, nickte. Nur ihre Augen glänzten im Schimmer des feuchten Moders in meiner Hand. Sie war irgendwie unförmig, doch ich vermochte nicht zu sagen, ob es an ihrer Kleidung oder Bewaffnung oder an ihrem Körper selbst lag.
    »Das ist meine Schülerin«, sagte die Tanzmistress.
    Mutter Eisen antwortete mit Worten, die ich nicht verstand. Ihre Stimme war klangvoll, als wäre die Frau viel größer, als sie aussah, mit der Brust eines Pferdes. Ich hatte gerade mehr über die Wissenschaft der Töne gelernt und dabei ein wenig begriffen, auf welche Weise sie erzeugt wurden.
    Die Tanzmistress antwortete in derselben Sprache. Beide nickten, und Mutter Eisen ging um uns herum. Sie roch völlig ungewöhnlich, mehr wie der Boden der Gerätekiste unter dem Leder und Eisen des Zaumzeugs, als irgendein Mensch, den ich je getroffen hatte.
    Ich hielt mich zurück, doch später fragte ich: »Wer war das?«
    »Mutter Eisen.«
    Wir kauerten hinter dem Granatapfelbaum, während ich meine schwarze Kleidung ablegte.
    »Aber was ist sie für eine Person? Was macht sie da unten?«
    »Sie ist ihr eigener Herr und geht ihre eigenen Wege.«
    Ein Geist also oder eine kleine Göttin vielleicht? »Du willst es mir nicht erklären?«
    »Nein, Mädchen.« Die Tanzmistress lächelte im Mondlicht. »Aber ich sage dir eines: Wenn du da unten jemanden triffst, dessen Namen ich dir gegeben habe, ist er kein Feind.«
    »Niemand ist mein Freund.«
    »Ja. Aber wenn du da unten in Schwierigkeiten gerätst, wäre es möglich, dass dir Mutter Eisen hilft, wenn sie es für richtig hält. Sie wird aber dein Leid nicht absichtlich vergrößern.«
    »Ich muss dir danken, glaube ich.«
    »Nichts zu danken«, sagte sie ernst.
    Es gab jemanden im Untergrund, der viel mehr war als ein Name, den ich ein oder zwei Mal im Jahr hörte. Wir begegneten ihm in der wärmsten Nacht des Jahres mitten im kühlen Nordlandsommer.
    Die Tanzmistress lehrte mich während dieser Zeit Stürze in

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