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Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Titel: Der verborgene Hof: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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obgleich ich auf Sauberkeit bedacht war, besonders nach den Nachtausflügen mit der Tanzmistress. Doch der letzte lag auch schon neun Tage zurück. Mistress Tirelle wusch meinen Rücken mit einem in Rosenwasser getauchten Baumwolltuch und forderte mich dann auf, mir meine Arme und meine Brust und meinen Unterleib zu waschen, während sie sich an meinem Haar zu schaffen machte.
    »Du hast ja keine Ahnung«, flüsterte sie heftig. »Ich habe jede Minute dieser ganzen Jahre versucht, dich auf diesen Tag vorzubereiten. Du hast keine Ahnung, Mädchen.«
    Du könntest mir sagen, wovon ich keine Ahnung habe, dachte ich, aber ich sagte nichts. Sie würde mich nicht jetzt vor der Ankunft des Faktors schlagen, aber dafür blieben immer noch die Tage danach. Mistress Tirelle vergaß nie eine Übertretung. Sie erinnerte sich auch an die geringste Verletzung ihrer Würde.
    Wir arbeiteten hastig an meiner Verschönerung. Mein Haar wurde geöffnet, geölt und so rasch es ging gebürstet. Mir waren die Duftwässer und Salben, welche die erwachsenen Frauen benutzten, noch verwehrt, doch Mistress Tirelle unterstrich meine Augen mit dunklem Kajal und verlieh meinem Gesicht einen Hauch von Farbe. Sie färbte meine Lippen und überprüfte meine Zähne auf Unsauberkeiten vom Abendessen. Dann half sie mir in das Kleid, das ich aus grünem Batist geschneidert hatte. Nach Anweisung von Mistress Leonie hatte ich es mit einem angedeuteten Mieder genäht, um der körperlichen Veränderung gerecht zu werden, die bereits begonnen hatte. Mein angemaltes Gesicht und meine Kleidung nahmen vorweg, wohin mein Körper erst noch gehen musste.
    Mistress Tirelle murrte und fluchte, während sie mich für die Inspektion durch den Faktor vorbereitete. Ich ließ sie gewähren. Die sanften Berührungen, wenn sie dies und jenes ordnete und verbesserte, waren eine angenehmere Behandlung, als ich sie die meiste Zeit von ihr erfahren hatte.
    Auf eine bizarre Weise waren wir Familie füreinander. Sie hatte all die Jahre mit mir hier verbracht. Wie ich war sie eine Gefangene des Granatapfelhofes. Ich hatte nie gefragt, ob sie einen Mann geliebt oder ein Kind geboren oder irgendwo anders ein Leben gehabt hatte. Ich hatte einfach akzeptiert, dass sie tagtäglich da war, mich unterrichtete, bestrafte, mir das Leben selten leicht machte.
    Was hätte ich sonst tun sollen?
    Ich versuchte, mir Mistress Tirelle in Glöckchen gewickelt auf dem Rücken Ausdauers auf dem langsamen, heißen Weg zu den Tempelplattformen und der Vereinigung ihrer Seele mit der weiten Welt vorzustellen. Doch es gelang mir nicht, mir auszumalen, dass diese schreckliche Frau denselben Weg wie meine Großmutter gehen könnte.
    Hier in dieser Stadt, deren Götter schweigen und auf deren Thron ein Fremder sitzt, wen gäbe es hier, der ihr folgen könnte? Der Faktor vielleicht. Er war es sicherlich, den Mistress Tirelle am meisten fürchtete. Vielleicht war er auch eine Art Gott für sie.
    Sie unter der glühenden Sonne meiner Heimat zu sehen überstieg meine Vorstellungskraft. Aber ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen.
    »Grinse den Faktor nicht an«, knurrte Mistress Tirelle. Sie betrachtete mich und drehte mich prüfend im Licht der Kerzen und Laternen. »Du wirst uns keine Schande machen«, fügte sie hinzu. »Das ist der größte Augenblick in deinem Leben.«
    Ich hätte nichts antworten können, das nicht einen viel größeren Konflikt heraufbeschworen hätte, deshalb hielt ich erneut meinen Mund. Sie schob mich durch die Tür meines Schlafraumes auf den Balkon. Ich schritt vor Mistress Tirelle die Stufen hinab. Sie folgte und zog sich dann in die Dunkelheit des unteren Aufenthaltsraumes zurück.
    »Du wirst ihn beim Baum erwarten«, flüsterte sie aus ihrem Versteck.
    Der Granatapfelbaum ragte über mir in das blasse Licht der Morgendämmerung. Der Himmel schimmerte perlmuttartig hinter Nebel und Wolken, die ihn seiner eigentlichen Farbe beraubten und diesen besonderen, atemberaubenden Schimmer schufen. Es war nicht kalt, aber kühl genug für eine Gänsehaut an meinen Armen. Der Baum trug reichlich Früchte. Ich hatte bereits genug entdeckt, um nur von einem Ast den Korb eines Edlen und den Korb eines Bettlers füllen zu können.
    Eine einzelne Frucht lag ein Stück entfernt auf dem Pflaster außerhalb von Mistress Tirelles Blickfeld, etwa dort, wo mich die Tanzmistress zu unseren nächtlichen Ausflügen zu erwarten pflegte. Ich blickte traurig auf die Zerstörung der perfekten Form an der

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