Der verbotene Fluss
gehört. Später mochte ich lieber Geistergeschichten.«
Er behielt Emily im Auge, die ihn ungerührt ansah. »Die richtig unheimlichen?«
»Manchmal schon.«
»Die darf ich bestimmt nicht hören«, sagte sie mit einem Blick auf ihre Gouvernante. »Fräulein Pauly findet sicher, dass ich noch zu jung dafür bin.«
»Glaubst du denn an Geister?«, fragte er beiläufig und drehte ein Stück Kreide in den Händen.
Emily zuckte mit den Schultern. »Meinen Sie Frauen in langen weißen Kleidern, die über dem Boden schweben? Oder tote Ritter, die mit ihren rostigen Rüstungen klappern?«
»So ungefähr«, erwiderte Tom belustigt.
»Nein, an die glaube ich nicht. Glauben Sie daran, Mr. Ashdown?«
Er bemerkte, dass Fräulein Pauly ihn interessiert anschaute, und zuckte ebenfalls mit den Schultern. »Ich bin mir nicht sicher.«
»Haben Sie schon mal mit Geistern zu tun gehabt?«, fragte die Gouvernante. »Wenn ja, könnten Sie uns davon erzählen.«
Er warf ihr einen raschen Blick zu, und Charlotte nickte. Dann berichtete er von dem Betrüger Belvoir, der den Leuten das Geld aus der Tasche zog, und machte eine Geschichte daraus, mit der man ein achtjähriges Mädchen unterhalten konnte.
»Das war aber kein netter Mann«, erklärte Emily entschieden. »Ist er bestraft worden?«
»Ich habe etwas darüber geschrieben. Das haben viele Leute gelesen und sind nicht mehr zu ihm gegangen. Das ist gut, denn er hat Geld mit der Leichtgläubigkeit oder der Traurigkeit anderer Leute verdient.«
»Wieso Traurigkeit?«, fragte Emily.
Charlotte bemerkte, dass Mr. Ashdown sich mit der Antwort Zeit ließ. »Es kommt vor, dass jemand einen lieben Menschen verloren hat und so traurig ist, dass er nicht darüber hinwegkommt. Derjenige kann an nichts anderes mehr denken. Es fühlt sich an, als wäre alles um ihn herum dunkel geworden und als könnte er nie wieder lachen.«
Die Veränderung in seinem Tonfall war subtil. Ein Funke schien zwischen ihm und dem Mädchen überzuspringen, der ein unsichtbares Band knüpfte.
»Wenn dieser traurige Mensch nun hört, dass es ein Medium gibt, das mit den Toten sprechen und ihnen Botschaften überbringen kann, hofft er, eine Verbindung zu dem geliebten Menschen herzustellen. Kannst du dir das vorstellen?«
Emily war blass geworden. »Dass jemand so traurig ist?«
»Ja.«
Sie nickte.
Charlotte sah sie besorgt an. War Mr. Ashdown zu weit gegangen?
»Wenn jemand so etwas ausnutzt, ist er ein schlechter Mensch.«
»Gibt es auch andere?«, fragte Emily leise.
»Wie meinst du das?«
»Nun, Leute, die wirklich mit Geistern reden können. Die keine schlechten Menschen sind.«
»Vielleicht. Ich habe eine Frau kennengelernt, bei der ich mir wirklich nicht sicher bin.«
Das Mädchen blickte auf und wirkte erleichtert, dass das Gespräch eine andere Wendung genommen hatte. »Erzählen Sie uns von der Frau. Ich möchte gern wissen, ob es Geister gibt.«
Charlotte trat ans Fenster, während Mr. Ashdown von seiner Begegnung mit einer gewissen Leonora Piper berichtete, sah hin aus in den Regen und lauschte seiner tiefen Stimme. Die Frau, eine Amerikanerin, schien ihn tatsächlich beeindruckt zu haben, und sein Interesse übertrug sich auf ihre Schülerin, die aufgeregt Zwischenfragen stellte.
»Und sie konnte die ganzen Dinge erzählen, die nur Robert und Jerry wussten?«
»Es sah ganz danach aus.«
»Und sie kam aus Amerika und kannte die beiden nicht?«
»Nein.«
»Haben Sie auch mal etwas erlebt, das Sie nicht erklären konnten?«
Mr. Ashdown lächelte. »Ja, aber es ist lange her. Ich war noch ein Junge. Und es ist nicht mir selbst passiert.« Er erzählte von der Freundin seiner Großmutter, die gespürt hatte, wie ihr Sohn weit entfernt bei einem Unfall gestorben war.
Charlotte sah, wie eine Ader an Emilys Hals pochte. »Sie hat das gemerkt?«
»So scheint es zumindest.«
»Ist sein Geist zu ihr gekommen und hat es ihr gesagt?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich muss bis heute daran denken. Vor allem, wenn ich Kirschen esse.«
Der Ton wurde leichter, als Emily und Mr. Ashdown sich über ihr jeweiliges Lieblingsobst austauschten und die Vorzüge von Kirschen und Aprikosen gegeneinander abwogen. Charlotte war erleichtert, dass die Begegnung so gut verlaufen war.
Nach der Stunde schickte sie Emily zu Nora. Als sie allein waren, schaute sie ihn herausfordernd an. »Sie hätten Ihren Besuch besser angekündigt.«
Er deutete eine Verbeugung an. »Verzeihen Sie. Sie haben es sehr elegant
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