Der verbotene Fluss
verstehen, wie Emily sich fühlte; die Gefahr, nach einem solchen Verlust den Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren, war groß. Er erinnerte sich nur zu gut daran, dass er, wenn er allein im Haus war, mehr als einmal geglaubt hatte, Lucy mit Händen greifen zu können, dass er sie in ihrem Sessel oder an einem anderen vertrauten Ort erwartet hatte. Allerdings war er erwachsen gewesen und hatte Freunde gehabt, die ihm beistanden und mit denen er über Lucy sprechen konnte.
Er setzte sich hin und nahm die Unterlagen noch einmal zur Hand. In dieser Geschichte passten viele Dinge nicht zusammen. Miss Pauly hatte ausgezeichnete Arbeit geleistet und die offenen Fragen und Unstimmigkeiten übersichtlich dargestellt. Angesichts der unklaren Lage erschien es ihm ratsam, die Vorkommnisse zunächst wie ein Detektiv zu betrachten und nicht wie jemand, der auf der Suche nach dem Übernatürlichen war. Damit folgte er durchaus dem Prinzip seiner Kollegen, die erst alle erklärbaren Ursachen ausschlossen, bevor sie sich den unerklärlichen Dingen zuwandten.
Im Büro des Surrey Advertiser in Guildford nahm man seinen Besuch mit höflichem Erstaunen auf.
»Die Geschichte liegt einige Zeit zurück«, bemerkte der Redakteur, der sich als Joshua Phillips vorgestellt hatte.
»Sie hat dennoch meine Aufmerksamkeit erregt. Ich plane eine Artikelserie über Menschen, die verschwunden und vermutlich umgekommen sind, deren Leichen man jedoch nie gefunden hat. Natürlich würde ich erwähnen, dass Sie mich bei den Recherchen freundlicherweise unterstützt haben …«
Tom verspürte einen Anflug von schlechtem Gewissen, als er den Redakteur mit dem großen Namen seiner Zeitung und einer Artikelserie lockte, die nur in seiner Fantasie existierte.
Phillips hatte ihm Tee angeboten, und sie saßen gemeinsam in der verräucherten Redaktionsstube, in der außer dem Redakteur niemand zu arbeiten schien. Tom war mit einem frühen Zug nach Guildford gefahren, da er am Nachmittag wieder bei der Familie Clayworth erwartet wurde.
»Nun, es war eine äußerst tragische Geschichte, Mr. Ashdown. So etwas kommt in unserer ruhigen Gegend selten vor, daher war das Aufsehen umso größer. Lady Ellen Clayworth war eine angesehene Dame und die Ehefrau unseres geschätzten Abgeordneten –« Er verstummte, als Tom die Hand hob.
»Mr. Phillips, wir kommen aus derselben Branche«, sagte er in vertraulichem Ton. »Das alles weiß ich längst. Für meinen Artikel brauche ich neue Aspekte, über die noch nicht in aller Ausführlichkeit berichtet wurde. Sie wissen doch, nichts ist älter als die Zeitung von gestern.«
Phillips schaute auf seine kräftigen Hände und zuckte mit den Schultern. »Sie werden verstehen, Mr. Ashdown, dass ich gewisse Vorbehalte gegen Ihr Ansinnen hege. Sir Andrew wird es nicht begrüßen, wenn diese schmerzlichen Ereignisse erneut in der Presse ausgebreitet werden.«
»Ich werde diskret vorgehen und die Personen anonymisieren, Initialen verwenden«, bot Tom beflissen an.
Der Journalist wirkte erleichtert. »Sie verstehen, ich bin ein wenig in der Zwickmühle … Aber wenn Sie es mir zusagen, könnte ich …«
Er stand auf und holte eine dicke Aktenmappe aus einem Schrank, wischte mit dem Handrücken den Staub ab und legte sie auf den Schreibtisch neben die Teetassen.
»Da steht alles drin – fast alles.« Er beugte sich vor, obwohl außer ihnen niemand im Raum war. »Bis auf eines, aber das ist sehr heikel, daher habe ich es nie in meinen Artikeln erwähnt.« Er räusperte sich. »Einige Leute erzählten sich, dass Sir Andrew und seine Frau – sich trennen wollten, bevor sie starb.«
Tom dachte sofort daran, was Tilly Burke zu Fräulein Pauly gesagt hatte. Er wollte sie fortschicken . War es vielleicht doch mehr als das Gerede einer alten, verwirrten Frau gewesen?
»Was wissen Sie darüber?«
Phillips zuckte verlegen mit den Schultern. »Nicht viel. Ich weiß auch nicht, wer das Gerücht aufgebracht hat, aber Lady Ellen war einige Zeit nicht mehr in der Öffentlichkeit erschienen, bevor sie starb. Sie trat bei repräsentativen Gelegenheiten ohnehin selten an der Seite ihres Mannes auf, was normalerweise damit entschuldigt wurde, dass sie sich um ihr kränkelndes Kind kümmerte. Ungewöhnlich für eine Frau ihrer Position.«
»Sehr aufopferungsvoll, sich der Pflege des Kindes zu widmen, statt ihren Mann bei gesellschaftlichen Anlässen zu begleiten«, bemerkte Tom.
»In der Tat. Dafür wurde sie allseits respektiert. Es
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