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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
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sicher, dass er dem Arzt geglaubt hatte, sonst hätte er sie nicht von Emily ferngehalten; als er sie im Mole ertrunken glaubte und nun endgültig, erhängt im Zimmer ihrer Kindertage. Er hatte reglos dagestanden und geschwiegen, eine Ewigkeit, wie es Tom erschien.
    Sir Andrew hatte seine tote Frau betrachtet. Dann war er hinausgegangen und mit einem Messer zurückgekehrt. Er hatte sich darangemacht, die zusammengeknoteten Tücher zu durchtrennen, die tief in den Hals der Verstorbenen schnitten. Dabei hatte er stoßweise geatmet, und die Haare waren ihm ins Gesicht gefallen, während er die Klinge unablässig auf und ab bewegte, bis der Stoff endlich zerriss und ihren Hals freigab. Er ließ das improvisierte Seil achtlos fallen, wischte sich die Hände geistesabwesend an den Hosenbeinen ab und verließ das Zimmer.
    Tom war ihm langsam gefolgt, nachdem er die Tür behutsam hinter sich geschlossen hatte. Eigentlich war es ein Trost, dass seine eigene Erinnerung an Lucy nicht von solchen Schatten getrübt war, dass er zwar sie, nicht aber die Liebe zu ihr verloren hatte. Ein leichter Schauder hatte ihn überlaufen, und er hatte den Gehrock enger um die Schultern gezogen.
    Der Whisky brannte angenehm in seiner Kehle. Er lief unruhig im Arbeitszimmer auf und ab, griff nach einem Buch und legte es wieder beiseite, sah dann in Lucys Ecke, fand aber auch dort keinen Frieden. Dann fiel sein Blick auf den Brief, den Daisy ihm auf den Schreibtisch gelegt hatte.
    Dankbar für die Ablenkung öffnete er ihn und trat damit ans Fenster.
    Mein lieber Ashdown,
    wie versprochen habe ich Erkundigungen über eine mögliche geistige Erkrankung von E. C. eingeholt. In der medizinischen Literatur sind seit einigen Jahrzehnten Störungen beschrieben worden, in denen sich Menschen selbst als krank bezeichnen oder sogar in einen Zustand der Krankheit versetzen, indem sie dem eigenen Körper beispielsweise schädliche Substanzen zuführen. Man vermutet, dass sie dies tun, um Aufmerksamkeit oder Mitleid zu erregen, was auf eine hochgradig gestörte seelische Verfassung schließen lässt.
    Ein Fall wie der von Ihnen beschriebene, in dem einer dritten Person, zumal einem Kind, solche Schädigungen zugefügt werden, ist bisher nicht bekannt. Das heißt jedoch, wie mir Kollegen aus dem medizinischen Fach versichert haben, nicht zwingend, dass so etwas undenkbar oder ausgeschlossen sein muss. Es besteht eine große Zurückhaltung, wenn es um die Untersuchung und Beschreibung von Verletzungen geht, die Kindern von der Hand Erwachsener zugefügt werden, was wohl auf ein falsches, weil unangebrachtes Schicklichkeitsdenken zurückzuführen ist.
    Ich bedauere, dass ich Ihnen keine eindeutigere Antwort übermitteln kann als: Es ist ungewöhnlich, aber nicht undenkbar. Leider ist die Vorstellung jedoch so unerhört, dass es noch lange dauern wird, bis man dem Schutz eines Kindes Vorrang gewähren wird.
    Herzlichst,
    Ihr H. Sidgwick
    Tom setzte sich an den Schreibtisch, nahm Papier und Stift und verfasste einen kurzen Brief.
    »Ich werde mich mit meiner Tochter auf Reisen begeben«, erklärte Sir Andrew nach der Ankunft am Chester Square. Er hatte Charlotte in sein Arbeitszimmer gebeten, noch bevor sie zu Emily gehen konnte. »Sie werden verstehen, dass wir nach diesen tragischen Geschehnissen Abstand gewinnen müssen. Ich hoffe, dass meine Tochter ihre geistige Gesundheit wiedererlangt, wenn sie von neuen Eindrücken abgelenkt wird. Ich dachte an Italien.«
    »Das wäre gewiss ein wunderbares Erlebnis«, sagte Charlotte, nachdem er innegehalten hatte, als wollte er ihre Meinung dazu einholen.
    »Auch überlege ich, im Anschluss an die Reise ganz nach London zu ziehen, damit Emily frei von den Erinnerungen an Chalk Hill ein neues Leben beginnen kann.«
    In dem sie selbst keinen Platz haben würde, dachte Charlotte. Es war keine Vermutung, sondern eine Erkenntnis, die rasch und mit unumstößlicher Gewissheit in ihr gewachsen war. Sir Andrew würde sie nicht mit auf die Italienreise nehmen und sie auch nach der Rückkehr nicht mehr als Gouvernante beschäftigen. Er hatte es noch nicht ausgesprochen, aber sie spürte, dass ein Abschied bevorstand.
    Sie schluckte, als ihr ein bitterer Geschmack in den Mund stieg.
    »Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie meiner Dienste nicht mehr bedürfen?« Sie wählte eine möglichst unpersönliche Formulierung, um die aufsteigenden Tränen im Zaum zu halten.
    »So ist es, Fräulein Pauly, auch wenn ich dies sehr bedauere.

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