Der verbotene Fluss
Chalk Hill noch auf dem Friedhof wünsche. Daher hatte Tom Sir Andrew sein Beileid ausgesprochen, sich verabschiedet und war am Vortag nach London zurückgekehrt.
Sosehr man sich um Diskretion bemühte, wurde dennoch getuschelt. Der Haushalt von Chalk Hill wusste Bescheid, ebenso Nora Burke und die Polizei, und das Geschehene würde sich auf Dauer kaum geheim halten lassen. Daher teilte Sir Andrew Charlotte unmittelbar nach dem Begräbnis mit, dass sie noch an diesem Tag nach London zurückkehren würden, wo er über seine und Emilys Zukunft entscheiden wolle.
Beklommen erlebte sie mit, wie er Mrs. Evans anwies, die Hausmädchen zu entlassen. Sie müsse lediglich eine Putzfrau beschäftigen, die das Haus in Ordnung hielt, während sich Wilkins um die nötigsten Arbeiten in Garten und Remise kümmerte.
Auf ihre besorgte Frage, wann er und Miss Emily zurückkommen würden, gab er keine Antwort.
Im Zug saß er Charlotte schweigend gegenüber. Als sie die Stille nicht länger ertragen konnte, stellte sie die Frage, die ihr seit der Entdeckung der Toten auf der Seele brannte.
»Was werden Sie Emily sagen?«
Sein Blick zuckte zu ihr, als wäre er in Gedanken ganz weit fort gewesen. Er seufzte. »Ich weiß es nicht.«
Sie atmete durch. »Verzeihen Sie, aber jemand muss ihr erklären, weshalb wir in Chalk Hill waren. Und was ihre – Vision angeht …«
Er richtete sich mit einem Ruck auf. »Meine Tochter hat keine Visionen«, entgegnete er heftig. »Ich bin diesen ganzen Unsinn leid. Sie hat genug durchgemacht.« Er schaute auf seine Hände und zuckte dann mit den Schultern. Wie schwer musste es ihm fallen, einer Gouvernante seine Hilflosigkeit einzugestehen?
»Irgendetwas muss man ihr sagen. Bitte.«
Ihr Tonfall ließ ihn aufblicken. »Ich kann es nicht. Ich … Ich bin gewiss kein sehr fürsorglicher Vater gewesen …« Sie spürte, wie viel Mühe ihn diese Worte kosteten. »Ich hätte Emily nicht diesem Mädchen überlassen dürfen, nachdem ihre Mutter … Ich habe mir fest vorgenommen, es künftig besser zu machen.« Er schluckte. »Aber das … Ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll. Würden Sie das übernehmen?«
Charlotte sah förmlich, wie die Mauer, die er um sich und seine Trauer gezogen hatte, zu bröckeln begann, und fühlte sich diesem verschlossenen Mann zum ersten Mal nahe. Andererseits widerstrebte es ihr, diese Aufgabe zu übernehmen, da es seine Pflicht als Vater gewesen wäre, mit Emily zu sprechen.
»Ich bin nur Emilys Gouvernante.«
»Sie vertraut Ihnen, das wissen Sie genau.« Und dann fügte er etwas hinzu, das ebenso logisch wie selbstsüchtig war. »Wenn ich es ihr erzähle, wird sie die schlechten Neuigkeiten stets mit mir verbinden. Wann immer sie an den Tod ihrer Mutter denkt, wird sie mich vor Augen haben. Wie soll daraus etwas Neues, Gutes entstehen?«
Er hatte, nüchtern betrachtet, völlig recht. Sie selbst war nur eine vorübergehende Erscheinung in Emilys Leben, während er für immer ihr Vater sein würde.
Und so fiel es Charlotte zu, Emily zu erklären, was geschehen war, ohne ihr die ganze Wahrheit zu sagen. Eine Aufgabe, die geradezu unmöglich erschien.
Sie schaute aus dem Fenster, an dem sich die Regentropfen der Schwerkraft widersetzten und quer über die Scheibe rannen. Sie durfte Emily nicht verschweigen, dass ihre Mutter nun endgültig tot war. Doch was sich wirklich zugetragen hatte, konnte sie ihr auch nicht sagen, das wäre zu grausam. Dann kam ihr eine Idee. Sie nickte stumm. So würde es vielleicht gelingen.
Tom Ashdown hatte kaum geschlafen. Die Ereignisse der letzten Tage saßen ihm in den Knochen, und er verspürte, obwohl es noch recht früh am Tag war, das Bedürfnis nach einem Whisky. Er musste sich eingestehen, dass ihn der Tod der ihm unbekannten Frau tiefer traf, als er wahrhaben wollte. Vielleicht war es aber auch nicht ihr Tod, sondern der Gedanke an die quälenden Ereignisse in den Jahren und Monaten, bevor er und Charlotte sie erhängt aufgefunden hatten.
Er war dabei gewesen, als Sir Andrew das Zimmer betrat, in das man die Tote gebettet hatte, und hatte diskret an der Tür gewartet. Er wusste, was es bedeutete, einen geliebten Menschen zu verlieren – doch was, wenn sich die frühere Liebe gewandelt hatte, wenn aus ihr etwas Dunkles geworden war, das sich wie ein Schatten über die glücklichen Erinnerungen legte? Sir Andrew hatte seine Frau dreimal verloren: als er begriff, was sie dem Mädchen angetan hatte – denn Tom war sich
Weitere Kostenlose Bücher