Der verbotene Fluss
mit Nora im Schulzimmer.«
Charlotte spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. »Bist du dir sicher?«
Millie biss sich auf die Lippe, als wäre ihr die Frage unangenehm. »Sie haben es immer so gehalten, seit … seit Lady Ellen nicht mehr da ist. Und, ja, ich habe das Essen vor zehn Minuten hinaufgebracht.«
»Danke.« Sie nickte dem Hausmädchen zu, das daraufhin rasch das Zimmer verließ.
Der Appetit war ihr vergangen, doch vor ihr lag ein langer Arbeitstag, für den sie sich stärken musste. Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie keinen Ort für das gemeinsame Frühstück ge nannt hatte. So konnte sich Nora damit herausreden, sie habe im mer mit dem Mädchen im Schulzimmer gegessen und geglaubt, Charlotte werde es genauso halten.
Charlotte nahm Toast und Butter, Eier und Speck und trank mehrere Tassen von dem köstlichen, starken Tee, der dazu serviert worden war.
Es hatte keinen Sinn, sich auf derartige Spielchen einzulassen. Sie würde in Ruhe zu Ende frühstücken, sich danach ins Schulzimmer begeben und die Angelegenheit mit Nora klären.
Dann fiel ihr wieder ein, dass sie letzte Nacht aufgewacht war – ob von Emilys Weinen oder einem Schrei, konnte sie nicht mehr sagen. Aber es musste laut gewesen sein, sonst wäre es nicht bis zu ihr in den Turm gedrungen. Nora musste es auch gehört haben, obwohl sie in dem Stockwerk darüber schlief.
Sie tupfte sich den Mund mit der Serviette ab und wollte gerade aufstehen, als es an die Tür klopfte und Mrs. Evans eintrat.
»Guten Morgen, Miss Pauly«, sagte sie in ihrem sachlichen Ton. »Ich hoffe, Sie haben angenehm geschlafen.«
»Ja, vielen Dank.«
»Um wie viel Uhr soll ich den Mittagsimbiss ins Schulzimmer schicken? Bisher wurde gegen eins gegessen.«
»Das ist mir sehr recht, Mrs. Evans.« Charlotte zögerte für einen Augenblick. »Ab morgen früh werden Miss Emily und ich hier unten gemeinsam frühstücken. Könnten Sie das bitte so einrichten?«
Die Haushälterin hob flüchtig die Augenbrauen und nickte dann. »Sehr wohl, Miss Pauly.«
Dann wandte sie sich ab und verließ den Raum.
Zufrieden ging Charlotte nach oben in ihr Zimmer. Da es erst halb zehn war, las sie noch ein wenig, packte ihr Lehrmaterial für den Tag zusammen und begab sich dann zum Schulzimmer. Sie fand es verlassen vor.
Charlotte holte tief Luft, drehte sich um und schaute den Flur entlang. Niemand zu sehen. Sie horchte und meinte, Stimmen aus Emilys Zimmer nebenan zu vernehmen. Sie klopfte und trat ein. Das Mädchen saß vor der Frisierkommode, Nora stand hinter ihr und flocht ihr die Haare zu Zöpfen. Trotz ihres Ärgers registrierte Charlotte, wie hübsch das Zimmer aussah. Weiß gestrichene Möbel, blaue Bettwäsche und Vorhänge, hübsche Bilder mit Tieren und Landschaften, Puppen und ein großes Schaukelpferd mit einem echten Ledersattel. In einer Ecke stand ein prachtvolles Puppenhaus mit drei Etagen und liebevoll eingerichteten Zimmern.
»Guten Morgen, Emily. Wir beginnen jetzt mit dem Unterricht. Ich erwarte dich nebenan.«
Das Mädchen schaute sie schräg von der Seite an, da es den Kopf nicht bewegen konnte, solange Nora die Haare festhielt. »Wir mussten die Zöpfe neu flechten. Ich habe es selbst versucht, aber sie sind beim Frühstück wieder aufgegangen.«
Nora schwieg.
Charlotte trat einen Schritt ins Zimmer hinein. »Emily, geh bitte schon nach nebenan.« Nora ließ den fertigen Zopf los, worauf Emily, die wohl die Spannung spürte, rasch ins Nebenzimmer lief.
»Nora, ich möchte einige Dinge klarstellen. Von morgen an wird Emily mit mir im Speisezimmer frühstücken. Ich erwarte, dass Emily vor dem Frühstück fertig angezogen und frisiert ist. Du kannst dich gern darum kümmern, aber sie wird pünktlich um Viertel nach acht mit mir am Tisch sitzen.«
Sie schaute Nora abwartend an, die schweigend zu Boden blick te. Nach ihrem Angebot am Tag zuvor hatte Charlotte gehofft, dass der erste Schritt zu einem friedlichen Miteinander gemacht sei, doch das Mädchen wirkte ebenso verstockt wie am Anfang.
»Es ist nicht leicht, ein Kind loszulassen, das man so lange kennt. Ich nehme an, dass es sich bei der Sache mit dem Frühstück heute Morgen um ein Missverständnis gehandelt hat. Du wirst Emily nach wie vor sehen, aber sie braucht einen geregelten Tagesablauf, der vom Schulunterricht bestimmt wird. Ich bin mir sicher, dass ihr Vater meine Meinung teilt.«
Bei der Erwähnung des Hausherrn huschte ein Schatten über Noras Gesicht.
»Ja, Miss Pauly«,
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