Der verbotene Fluss
Respekt erst noch verdienen, während Nora schon lange hier arbeitete und das Vertrauen der übrigen Dienstboten genoss.
Seufzend setzte sie sich in einen Sessel. Es war nicht einfach, in einen neuen Haushalt zu kommen und herausfinden zu müssen, wer wie zu wem stand, wem man vertrauen konnte und wessen Nähe besser zu meiden war.
Andererseits, und mit diesem Gedanken erhob sie sich schwungvoll, war sie hergekommen, weil sie die Herausforderung suchte. Sie durfte keine Schwäche zeigen, sondern musste selbstsicher auftreten und ihre Erfahrung nutzen. Dann konnte ihr nichts passieren.
Als es klopfte, antwortete sie mit fester Stimme: »Ja, bitte?«
Susan steckte den Kopf zur Tür herein. »Sir Andrew ist eingetroffen. Er wird Sie jetzt empfangen, und bittet Sie, danach mit ihm zu Abend zu essen.«
»Danke, ich komme gleich.« Charlotte wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, wusch sich rasch Gesicht und Hände und richtete ihre Frisur. Dann ging sie mit sicherem Schritt die Wendeltreppe hinunter.
Ein gut aussehender Mann – ihr erster Gedanke war ebenso über raschend wie unangebracht. Für gewöhnlich gab Charlotte nichts auf Äußerlichkeiten, da sie schon viele Menschen kennengelernt und dabei erfahren hatte, dass Aussehen und Charakter nicht immer übereinstimmten. Sie bemühte sich stets abzuwarten, bis sie eine Person näher kannte, bevor sie sich ein Urteil bildete. Ob Sir Andrew ein angenehmer Mensch war, musste sich erst noch herausstellen; dass er ein schöner Mann war, sah jeder, der sich seines Augenlichts erfreute. Er war glatt rasiert und trug das lockige, blonde Haar aus der Stirn gekämmt. Seine Kleidung war elegant, aber nicht steif, und als er sich von seinem Stuhl erhob, um Charlotte zu begrüßen, wirkten seine Bewegungen gewandt und selbstsicher.
»Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Fräulein Pauly.« Er gab ihr die Hand und bot ihr einen Stuhl vor dem Schreibtisch an. Susan hatte sie in die Bibliothek geführt, in deren deckenhohen Regalen sich wertvoll aussehende Bände aneinanderreihten. In einer Ecke am Fenster entdeckte Charlotte zu ihrer Überraschung einen Tisch mit einem Mikroskop und anderen Gerätschaften. Die Wände schmückten Urkunden, die sie auf die Schnelle nicht lesen konnte, doch gab es keine persönlichen Gegenstände wie Fotografien oder andere Erinnerungsstücke.
Als sie Platz genommen hatte, setzte er sich an den Schreibtisch und legte die Fingerspitzen aneinander.
»Ich hoffe, die Anreise war nicht zu strapaziös. Wie ich hörte, mussten Sie in Dover ungeplant übernachten. Das ist bedauerlich, aber auf die britische Eisenbahn ist leider nicht immer Verlass. Ich war auch schon das eine oder andere Mal gezwungen, über Nacht in London zu bleiben, weil der Zug nach Dorking ausfiel.«
»Ich habe zum Glück eine passende Unterkunft gefunden und konnte gleich heute Morgen weiterreisen. Die Fahrt war sehr angenehm.«
Er schwieg für einen Moment, und sie spürte seinen kühlen blauen Blick auf sich. Ob er mit diesem Blick auch die winzigen Proben unter seinem Mikroskop taxierte? Und welche Dinge mochten es sein – Pflanzen oder Tiere oder gar Teile von Menschen? Wie vertrug sich das mit seiner Tätigkeit als Parlamentsabgeordneter?
»Sie haben meine Tochter schon kennengelernt?« Eigentlich war es keine Frage, sondern eine Feststellung, in der eine gewisse Erwartung mitschwang.
»Ja. Sie scheint ein sehr nettes Mädchen zu sein, und ich freue mich darauf, sie zu unterrichten. Sie erwähnte, dass bereits zwei Gouvernanten vor mir im Haus gewesen seien …«
Sir Andrew räusperte sich. »Das ist richtig. Es waren Hilfslehrerinnen, die sie auf die Ankunft einer richtigen Gouvernante vorbereiten sollten, aber sie erwiesen sich als ungeeignet.«
Charlotte wartete, ob er dem noch etwas hinzufügen würde, doch er schwieg.
»Sie erwähnten in Ihrem Brief, dass Emily früher oft krank gewesen sei. Ihr Kindermädchen deutete vorhin etwas von Magenproblemen an. Ich wäre sehr dankbar, wenn ich wüsste, worauf ich achtgeben muss, damit ich nicht unabsichtlich ihrer Gesundheit schade.«
Ein flüchtiger Ausdruck des Unwillens huschte über Sir Andrews Gesicht, doch er hatte sich sofort wieder in der Gewalt und lächelte. »Meine Tochter ist völlig gesund. Nora hat miterlebt, wie schlecht es Emily bisweilen gegangen ist, und übertreibt es daher mit der Fürsorge. So ist das mit den Kindermädchen. Davon sollten Sie sich nicht beeinflussen lassen. Wie ich
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