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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
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schon alt und vor vielen Jahren zerstört worden.«
    Emily blieb stehen und sah sie argwöhnisch an. »Wer baut denn etwas, das von Anfang an kaputt ist?«
    »Nun, das ist eine englische Erfindung.«
    Das Mädchen machte große Augen. »Wie komisch. Ich dachte immer, etwas ist nur schön, wenn es ganz ist.« Sie schaute Charlotte unsicher an, als hätte sie etwas Dummes gesagt.
    »Stimmt, das ist schwer zu verstehen.« Charlotte kam spontan die Idee, dem Mädchen bei dieser Gelegenheit etwas über die Romantik beizubringen. Und so erzählte sie kindgerecht von der Sehnsucht nach verwunschenen Schlössern, nach alten Zeiten, von der Suche nach einer blauen Blume, die niemand finden konnte, und der Liebe zur Natur. Emily stellte zwischendurch kluge Fragen, und bald unterhielten sie sich so angeregt, dass sie das Dorf, durch das sie gingen, kaum wahrnahmen.
    »Wenn du ein bisschen Deutsch gelernt hast, lesen wir ein paar schöne Gedichte aus dieser Zeit.«
    »Lesen wir auch englische Gedichte?«
    »Selbstverständlich. Die kannst du mir dann vorlesen, damit ich höre, wie es richtig klingt.«
    Emily sah sie stolz und überrascht an. »Meinen Sie wirklich?«
    Charlotte fand es wichtig, Kindern Selbstvertrauen zu schenken und sie in dem, was sie gut konnten, zu bestärken. Es gab Lehrerinnen, die niemals zugegeben hätten, dass ein Kind ihnen in etwas überlegen sein könnte, doch das fand sie falsch.
    »Natürlich.«
    »Sie sprechen aber gut Englisch.«
    »Vielen Dank. Seit ich hier bin, merke ich allerdings, wie viel ich noch lernen muss.«
    Plötzlich blieb Emily stehen und zeigte nach links. »Da ist die Ruine.«
    Inmitten einer Wiese, die von einem einfachen Holzzaun umgeben war, erhob sich eine einsame Giebelwand aus grauem Naturstein. Dass es sich um die Überreste einer Kirche handelte, verriet nur die runde Fensteröffnung. Ein Stück entfernt entdeckte Charlotte weitere Mauerreste, die vermutlich das andere Ende des Gebäudes darstellten.
    »Weißt du, wie alt die Kapelle ist?«
    Emily überlegte. »Nicht genau, aber sie ist das älteste Gebäude im Dorf, und sie ist aus dem Mittelalter.«
    »Kannst du dir vorstellen, wie es hier früher ausgesehen hat? Das tue ich immer, wenn ich eine Ruine oder ein anderes altes Gebäude sehe«, sagte Charlotte. »Mach die Augen zu, und male dir aus, wie ein Ritter mit seinem Knappen vorbeireitet oder ein fahrender Händler, dessen Wagen mit Glöckchen geschmückt ist, um die Leute anzulocken.« Sie warf einen Blick auf Emily, die mit geschlossenen Augen dastand.
    »Ich sehe es genau vor mir.«
    »Und jetzt kommt ein Mönch mit seinem Gebetbuch, der in die Kapelle einkehren möchte. Sein braunes Gewand streift das nasse Gras, dann streckt er die Hand nach der hölzernen Tür aus und stößt sie auf. In der Kapelle ist es kühl, und es riecht nach Weihrauch …«
    »Was ist Weihrauch, Fräulein Pauly?« Emily hatte die Augen geöffnet.
    Charlotte erklärte es ihr, worauf das Mädchen die Nase rümpfte. »Ich glaube, der riecht nicht gut, oder?«
    »Manche Leute mögen ihn.« Allmählich legte sich ein Schatten über die Wiese mit den Ruinen, und Charlotte merkte, wie spät es geworden war. Sie hatten weit über eine Stunde im Dorf verbracht.
    »Lass uns umkehren; es wird bald dunkel.«
    Auf dem Rückweg kam ihnen ein Mann in schwarzer Soutane entgegen, der Emily freundlich grüßte. Er hatte ein frisches, wettergegerbtes Gesicht und blieb stehen, um sich vorzustellen.
    »Reverend Morton, der Gemeindepfarrer von Mickleham. Ich bin auch für Westhumble zuständig.«
    »Charlotte Pauly. Ich bin die neue Hauslehrerin in Chalk Hill. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
    »Ich habe Ihnen doch von ihr erzählt, Mr. Morton«, warf Emily ein. »Fräulein Pauly wird mir Deutsch beibringen, und sie kann gut Klavier spielen.«
    Eigentlich hätte Charlotte Emily ermahnen müssen, weil sie sich in das Gespräch von Erwachsenen eingemischt hatte, doch der Geistliche strich dem Mädchen liebevoll übers Haar.
    »Ja, das hast du. Und es freut mich, deine Lehrerin schon so bald kennenzulernen.«
    »Emily ist eine ausgezeichnete Fremdenführerin«, sagte Charlotte lächelnd.
    »Ach ja, dann haben Sie sicher auch unsere Ruine gesehen. Leider wurde die Kapelle in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts aufgegeben, einer unglückseligen Zeit für die Kirche. Ich setze mich dafür ein, dass die Mauern ausgebessert werden, damit wenigstens sie uns erhalten bleiben.« Er hielt inne. »Sie spielen Klavier?

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