Der verbotene Fluss
bereits in meinem Schreiben erwähnte, sind keine besonderen Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Ich begrüße es sehr, wenn Emily an die frische Luft kommt, nachdem sie stundenlang im Schulzimmer gesessen hat.«
Charlotte nickte. Eine Frage brannte ihr auf der Seele, und sie überlegte, ob sie zu diesem frühen Zeitpunkt bereits angebracht wäre. Sie zögerte einen Moment lang, dann war ihre Entscheidung gefallen.
»Darf ich fragen, ob Nora als Kindermädchen weiterhin im Haus bleiben wird?«
Sir Andrew sah sie prüfend an. »Warum?«
»Nun, nach meiner Erfahrung ist das Zusammenleben von Hauslehrerin und Kindermädchen bisweilen etwas heikel. Es gibt Auseinandersetzungen darüber, wer sich wann und in welchem Rahmen um die Kinder kümmert. Diese sollten nach Möglichkeit nicht unter den Unstimmigkeiten leiden.«
Sir Andrew ließ sich Zeit mit der Antwort, und Charlotte fürchtete schon, sie sei zu weit gegangen. »Fräulein Pauly, die Frage ist vielleicht etwas verfrüht.« Seine Stimme klang höflich, doch schwang eine gewisse Kälte darin mit. »Meine Tochter hat eine furchtbare Zeit durchlebt. Der Tod ihrer Mutter war ein schwerer Schlag für die Familie. Daher möchte ich ihr nicht zu viele Veränderungen auf einmal zumuten. Ich halte es noch nicht für richtig, sie von Nora zu trennen. Wenn Emily sich an Sie und die neue Situation gewöhnt hat, werde ich meine Entscheidung überdenken. Bis dahin sollten Sie versuchen, einen möglichst harmonischen Umgang mit Nora zu pflegen.«
Bei diesen Worten musste Charlotte schlucken, und eine scharfe Erwiderung lag ihr auf der Zunge. Eine Gouvernante stand in der Rangfolge über dem Kindermädchen, daher musste sich Nora mindestens ebenso um ein friedliches Zusammenleben bemühen wie sie selbst. Sie schluckte noch einmal und zählte innerlich bis zehn, bevor sie antwortete.
»Selbstverständlich, Sir Andrew. Emilys Wohlergehen genießt stets Vorrang. Wie ich schon sagte, ich freue mich darauf, sie zu unterrichten, und werde alles tun, damit Nora und ich gut miteinander auskommen.«
Er nickte zufrieden. »Gut, dann wäre das also geklärt. Noch einige Hinweise: Wenn ich zu Hause bin, werden wir beide gemeinsam mit Emily zu Abend essen. Wenn Gäste geladen sind, entscheide ich, ob Sie und meine Tochter dazugebeten werden. Ich erwarte regelmäßige Berichte über Emilys Fortschritte und eventuelle Schwierigkeiten sowie Vorschläge, wie diese zu beheben sind.« Er verstummte kurz, als arbeitete er im Geist eine Liste ab. »Das Schulzimmer steht Ihnen jederzeit zur Verfügung. Sie können zusätzlich die Bibliothek nach Absprache mit mir nutzen, allerdings nicht als Aufenthaltsraum, sondern nur, um Dinge nachzuschlagen oder Bücher auszuleihen.«
Charlotte nickte stumm. Seine nüchterne Art ließ nicht viel Raum für eine Antwort.
»Spaziergänge sind meiner Tochter jederzeit gestattet. Sie sollte allerdings immer in Begleitung nach draußen gehen. Sie werden feststellen, dass unsere Gegend durchaus reizvoll ist.«
»Ich habe von Zug und Wagen aus nicht viel gesehen, aber das Wenige fand ich äußerst malerisch. Wilkins erwähnte auch schon die Spazierwege am Fluss Mole.«
Sir Andrews Reaktion war so flüchtig, dass sich Charlotte später nicht mehr sicher war, was genau sie gesehen hatte. War er zusammengezuckt oder hatte er sich nur ruckartig bewegt? War es ein Anflug von Ärger, den sie in seiner Miene gelesen hatte, oder sogar Zorn? Dann hatte er sich wieder in der Gewalt und sagte mit ruhiger Stimme: »Sie werden sich andere Wege suchen müssen, Fräulein Pauly. Der Fluss ist manchmal unberechenbar. Emily wird dort nicht spazieren gehen.« Sein Ton ließ keinen Widerspruch zu.
»Gewiss, ich werde mich daran halten.«
»Das hoffe ich.«
Plötzlich war es, als rückten die Wände der Bibliothek näher, als wären die Regale Soldaten, die sich in einer Reihe auf Charlotte zubewegten. Sie kam sich eingesperrt vor und wäre am liebsten aufgestanden und gegangen, doch statt dem Drang nachzugeben, schaute sie den gut aussehenden Mann, dessen kühle Augen auf ihr ruhten, gelassen an.
»Nun …« Er erhob sich langsam. »Wollen wir zu Tisch gehen?«
Seine Stimme klang wieder höflich und zuvorkommend, als hätte es die kurze Missstimmung nicht gegeben. Doch Charlotte war froh, dass sie den Raum verlassen konnte.
Sir Andrew begleitete sie bis zur Tür des Speisezimmers.
»Wenn Sie mich für einen Augenblick entschuldigen. Ich bin gleich zurück.«
Drinnen trat
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