Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
Vom Netzwerk:
weiter.
    »Wir können uns gern unterhalten, solange wir nicht mit vollem Mund reden«, sagte sie sanft. »Das ist bei mir nicht verboten.«
    »Erzählen Sie mir etwas über Deutschland?«
    Charlotte schaute sie prüfend an. Emily besaß für ihr Alter eine erstaunliche Gabe, ihren Fragen höflich auszuweichen. Während andere Kinder oft übersprudelten vor Geschichten, wirkte sie bedächtig und schien ihre Worte genau abzuwägen. Wenn sie eine Frage nicht beantworten wollte, umging sie sie einfach mit einem Themawechsel, statt bockig zu schweigen.
    »Na schön. Kennst du Grimms Märchen?«
    »Ein paar, die hat …« Plötzlich saß Emily reglos da, den Blick auf den Teller gerichtet.
    »Ja?«
    Das Mädchen schien aus einer kurzen Trance zu erwachen und schaute sie erschrocken an. »Was?«
    »Du wolltest mir gerade sagen, wer dir Grimms Märchen erzählt hat.«
    Emily zuckte mit den Schultern und schaute auf ihren Teller. Charlotte versuchte es auf anderem Wege.
    »Und haben sie dir gefallen?«
    »Manche schon. Andere waren unheimlich. Das mit dem Pferdekopf hat mir nicht gefallen.«
    »Du meinst ›Die Gänsemagd‹«, sagte Charlotte. »Das ist wirklich gruselig. Aber du erinnerst dich sicher auch an das Ende, es geht ja gut aus.«
    »Vorher war es aber unheimlich«, beharrte Emily, und Charlotte widersprach ihr nicht. Kinder besaßen ein Gespür für furchteinflößende Dinge, und sie erinnerte sich, dass ihr das geköpfte Pferd als Kind auch schrecklich erschienen war.
    Charlotte drang nicht weiter in das Mädchen, bemerkte aber durchaus, dass Emily ihr wieder einmal ausgewichen war.
    Am Nachmittag unternahmen sie einen Spaziergang, da sich das Mädchen erst langsam an den strengeren Tagesablauf gewöhnen sollte. Emily fragte, ob Nora mitkommen könne, doch das Kindermädchen hatte die freie Zeit genutzt, um Verwandte im benachbarten Mickleham zu besuchen.
    Charlotte war erleichtert.
    »Es wäre schön, wenn du mir ein bisschen über den Ort erzählen würdest«, sagte sie zu dem Mädchen, als sie aus dem Tor in die Crabtree Lane bogen.
    »Gern.« Viele Kinder waren stolz, wenn sie Erwachsenen etwas erklären oder beibringen konnten.
    »Sehen Sie das Haus dort?« Das Mädchen zeigte auf ein Gebäude, das inmitten eines großen Gartens hinter einer Mauer lag. »Das ist Camilla Lacey. Es wurde von einer Schriftstellerin gebaut. Ich finde, es sieht sehr schön aus.«
    Charlotte blieb stehen und betrachtete das Haus mit den kleinen, bleigefassten Fensterscheiben und dem Spitzdach über der Haustür. Es war wirklich hübsch, und der Garten musste im Frühling und Sommer ein wahres Paradies sein.
    Emily lief ein paar Schritte voraus. »Am schönsten ist das hier.« Sie blieb stehen und zeigte nach rechts, wo die Mauer in einem steinernen Torbogen endete. An der höchsten Stelle war er mit einem Schachbrettmuster aus sandfarbenen und grauen Steinen geschmückt und wurde von einem Dach gekrönt. Eigentlich wirkte er viel zu großartig für das doch eher bescheidene Anwesen.
    »Ich stelle mir immer vor, dass das Tor zu einem Schloss gehört«, sagte Emily eifrig. »Dann würde ich mit meiner Kutsche hindurchfahren, die von zwei weißen Pferden gezogen wird.« Das Mädchen wirkte hier draußen plötzlich freier und sprang umher, zeigte auf dieses und jenes.
    »Ich war mal dort drinnen, mit Papa. Das ist aber schon eine Weile her. Von innen ist es auch sehr schön, aber kein Märchenschloss.«
    »Möchtest du Blätter für das Album sammeln?«, fragte Charlotte, als sie ein paar Schritte weitergegangen waren. »Es ist noch früh im Jahr, aber das eine oder andere werden wir schon finden.« Und schon bald suchte Emily unter den Bäumen nach besonders farbigen Exemplaren.
    »Wenn man sie presst, sehen sie nicht mehr so aus wie jetzt.«
    »Leider nicht. Aber wir können sie einkleben, und du schreibst die Namen darunter. Damit kannst du deinen Vater überraschen.«
    »Gut, das machen wir.« Emily fasste die Blätter an den Stielen, sodass sie wie ein rotbrauner Blumenstrauß aussahen. Ihre Wangen waren gerötet, und ihre Augen glänzten.
    »Soll ich Ihnen jetzt die Ruine der Kapelle zeigen? Es ist aber ein Stück zu gehen.«
    »Eine Ruine? Sehr gern! Ich mag Ruinen.«
    »Wirklich? Aber die sind doch kaputt.«
    Charlotte lachte. »Manche Leute finden Ruinen romantisch, weil sie sie an längst vergangene Zeiten erinnern. Früher hat man sogar künstliche Ruinen gebaut, Schlösser oder Klöster, die aussa hen, als wären sie

Weitere Kostenlose Bücher