Der verbotene Fluss
sagte sie leise und verließ das Zimmer.
Charlotte sah ihr nach. Ein Sieg war das nicht gewesen.
Im Schulzimmer saß Emily schon in der Bank und schaute ihr gespannt entgegen.
Charlotte setzte sich an den Schreibtisch gegenüber und faltete die Hände. »Zunächst einmal möchte ich wissen, wie es dir geht.«
Das Mädchen schaute sie überrascht an. »Mir geht es gut.«
»Heute Nacht habe ich Geräusche aus deinem Zimmer gehört und bin aufgestanden, um nachzusehen. Aber es war schon jemand bei dir.«
Emily nickte, sagte aber nichts.
»War es Nora?«
»Ja. Ist das schlimm?« Ihre Stimme klang zaghaft.
»Nein, das ist natürlich nicht schlimm«, sagte Charlotte beschwichtigend. »Hattest du schlecht geträumt?«
Emily nickte erneut.
»Kommt das öfter vor?«
Ihre Schülerin rutschte in der Bank hin und her, was verriet, wie unangenehm ihr die Fragen waren. Charlotte wollte nicht weiter in sie dringen.
»Gut, dann fangen wir mit dem Unterricht an. Hilf mir bitte.« Sie ging in die Ecke, in der einige Landkarten an der Wand lehnten. »Ist eine Karte von Europa dabei?«
»Ich glaube schon«, sagte Emily, der die Erleichterung anzumerken war. Sie fuhr mit dem Finger über die gerollten Karten und deutete auf eine, die Staub angesetzt hatte. »Diese da. Wir haben sie noch nie benutzt.«
Also ließ sich Charlotte von Emily zunächst auf einer Englandkarte die wichtigsten Flüsse und Städte zeigen. Die geografischen Kenntnisse des Mädchens waren gut, und sie strahlte bei jeder richtigen Antwort, doch als Charlotte die Europakarte ausrollte und an den Ständer hängte, war es mit den mühelosen Antworten vorbei.
»Europa müssen wir uns wohl gründlicher anschauen«, sagte sie.
Emily schaute zu Boden, bis Charlotte ihr einen Finger unters Kinn legte und es anhob, sodass sie einander in die Augen sahen. »Fangen wir an. Etwas nicht zu wissen ist kein Verbrechen, dumm ist nur, wenn du dich auf deiner Unwissenheit ausruhst.«
Danach arbeiteten sie ruhig miteinander und merkten kaum, wie die Zeit verging. Emily war fleißig bei der Sache, sprach von sich aus aber wenig. Daher war Charlotte umso überraschter, als sie unvermittelt fragte: »Ist es schön dort, wo Sie herkommen, Fräulein Pauly?«
Sie nickte. »Sehr schön. Ich stamme aus der Nähe von Berlin, aus einem kleinen Ort in Brandenburg. Es ist ein weites, flaches Land mit vielen Wäldern und prächtigen Gutshöfen.«
»Was sind Gutshöfe?«
»Große, reiche Bauernhöfe, die manchmal fast wie kleine Schlösser aussehen«, erklärte Charlotte. »Am schönsten ist aber der Spreewald.« Sie erzählte von den Flussarmen und Kanälen, die sich wie ein Netz durch die Wälder zogen, von Gewässern, die so still waren, dass sich die Baumkronen in ihnen wie in einem verwunschenen Spiegel betrachteten.
»Sie hören sich traurig an«, sagte Emily unverblümt, und Charlotte schaute sie überrascht an.
»Vielleicht habe ich ein bisschen Heimweh, das ist nicht ungewöhnlich. Aber auf der Fahrt hierher habe ich schon etwas von der englischen Landschaft gesehen und finde sie auch sehr schön. Hoffentlich lerne ich das alles bald besser kennen.«
Emily zögerte. »Ich … Ich bin fast nur hier gewesen, weil ich oft krank war. Papa sagt, er will mich demnächst einmal mit nach London nehmen.« Ihre Augen leuchteten bei diesen Worten. Unternehmungen mit dem Vater schienen selten und daher umso kostbarer zu sein.
»Aber jetzt geht es dir wieder gut?«, fragte Charlotte beiläufig.
»Ja, viel besser. Wollen wir weitermachen?«
»Natürlich. Wie weit bist du denn im Rechnen?«
Sie waren beim Deutschunterricht angelangt, als es an die Tür klopfte. War es wirklich schon Mittag? Beim Blick auf die Uhr sah Charlotte, dass tatsächlich drei Stunden vergangen waren. Sie klappte das Buch zu und legte den Zeigestock beiseite, mit dem sie Emily an der Tafel die ersten Vokabeln beigebracht hatte.
»Ab morgen versuchen wir, uns ein bisschen auf Deutsch zu unterhalten. Jetzt werden wir uns erst einmal für den Nachmittag stärken.«
Millie brachte kalten Braten, Brot und eingelegtes Gemüse, dazu Obst und Käse.
Sie aßen zunächst schweigend, wobei Charlotte das Kind unauffällig beobachtete. Es wirkte sehr still, fast ein wenig bedrückt, und sie fragte sich, ob es mit der unruhigen Nacht zusammenhing oder mit Noras Feindseligkeit, die Emily nicht entgangen sein dürfte.
»Bist du traurig?«, fragte sie schließlich.
Das Mädchen schüttelte den Kopf und aß
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