Der verbotene Fluss
sie ans Fenster und sah ihn um die Ecke in Richtung Remise gehen.
Beim Abendessen unterhielten sie sich höflich, ohne dass noch einmal die Sprache auf ihre zukünftige Tätigkeit kam. Sie plauderten über die Sehenswürdigkeiten von Berlin und London, die Überfahrt auf dem Kanal und das Wetter im vergangenen Sommer. Sir Andrew gab sich charmant und unterhaltsam, und Charlotte fragte sich ernsthaft, ob sie sich den Stimmungsumschwung vorhin nur eingebildet hatte.
Schließlich lieferte Sir Andrew auch die Erklärung für das Mikroskop, das Charlotte in der Bibliothek bemerkt hatte. Er betreibe Amateurstudien in Botanik und bilde sich in der Arbeit mit dem Mikroskop weiter, erzählte er. In London besuche er gern das naturhistorische Museum.
»Wie interessant«, sagte Charlotte. »In Berlin wurde im letzten Jahr auch ein derartiges Museum eröffnet. Sollte ich einmal Gelegenheit zu einer Reise nach London haben, möchte ich es mir unbedingt ansehen.«
Zum ersten Mal erschien ein Lächeln auf Sir Andrews Gesicht, das auch die kühlen Augen erreichte. »Es ist ein Palast, eine Kathedrale der Wissenschaft. Erst neun Jahre alt, aber schon von eminenter Bedeutung. Dort ist auch die botanische Sammlung von Sir Joseph Banks untergebracht, der mit Captain Cook gesegelt ist.«
Charlotte staunte über die plötzliche Verwandlung, die in ihm vorging. Er schwärmte von seinen botanischen Studien, der Fauna von Surrey und den Fossilien, die man im Süden von England seit vielen Jahrzehnten entdeckte.
Sie erwähnte die Blattsammlung, die sie mit Emily anlegen wollte. »Natürlich nur, falls Sie und Ihre Tochter so etwas noch nicht gemacht haben.«
Wieder trat der seltsame Blick in seine Augen, und ihr wurde klar, dass sie einen Fauxpas begangen hatte. In den Familien, die sich Gouvernanten leisteten, gaben die Mütter sämtliche Erziehungsaufgaben ab – umso mehr musste das für die Väter gelten, die ihre Kinder meist nur sahen, wenn sie ihnen am Abend präsentiert oder Gästen vorgestellt wurden.
»Das können Sie selbstverständlich tun, Fräulein Pauly, sofern die Pflichtfächer dabei nicht zu kurz kommen. Bei der Erziehung eines Mädchens genießen Sprachen, Musik und Handarbeiten Vorrang.«
»Natürlich. Wir werden uns damit beschäftigen, wenn die anderen Dinge erledigt sind.«
Nach dem Essen verabschiedete sich Sir Andrew und zog sich zum Rauchen in die Bibliothek zurück, während sich Charlotte auf den Weg in ihr Zimmer machte. Am Fuß der Treppe hielt sie inne, weil eine leise, gereizte Stimme aus dem Dienstbotenflur drang. Es war wie ein Déjà-vu – sie sah sich wieder in Mrs. Ingrams Haus mit einem Fuß auf der Treppe, während sie auf die Stimmen aus dem Wohnzimmer horchte. Auch diesmal verharrte sie reglos. »Es war übertrieben, ihn derart anzuschreien.« Mehr konnte sie nicht verstehen, doch dann fiel der Name Wilkins. Und ihr fiel wieder ein, wie Sir Andrew vor dem Essen in Richtung Remise verschwunden war.
Zunächst schlief sie gut. Die Ruhe im Zimmer und die Anstrengungen der Reise sorgten dafür, dass sie nicht lange wach lag.
Gegen zwei wurde sie jedoch von Geräuschen aus dem Stockwerk unter ihr geweckt. Sie waren nicht sehr laut, aber Charlotte war sofort hellwach. Sie stand auf und legte ein Tuch um die Schultern, bevor sie behutsam die Zimmertür öffnete.
Von unten hörte sie Schritte und leise Stimmen. Vorsichtig stieg sie die Treppe hinunter und schaute durch die Tür, die die Wendeltreppe vom Flur im ersten Stock trennte. Es war niemand zu sehen. Dann bemerkte sie, dass Emilys Zimmertür nur angelehnt war, und trat näher.
Sie hörte das beruhigende Murmeln einer Frauenstimme. »Schon gut, alles ist gut, du hast geträumt. Leg dich wieder hin. Alles ist gut.«
Vermutlich hatte Emily einen Albtraum gehabt und wurde nun von Nora getröstet. Erleichtert wandte sich Charlotte zur Treppe um und kehrte in ihr Zimmer zurück.
5
Als Charlotte am nächsten Morgen zum Frühstück herunterkam, war Sir Andrew gerade dabei, das Haus zu verlassen. Er begrüßte sie knapp, aber freundlich, und verschwand hinaus in den grauen Morgen.
Charlotte setzte sich ins Speisezimmer. Millie trug eine silberne Schüssel auf, die sie auf eine Wärmeplatte stellte, bevor sie den Deckel hob. Darin befand sich ein kräftiges Frühstück mit Rührei und Speck, das auch für zwei Personen gereicht hätte.
»Wo bleibt Miss Emily?«
Millie, die gerade den Raum verlassen wollte, drehte sich um. »Sie frühstückt
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