Der verbotene Fluss
neben dem Herd lag. Zu schade zum Feueranmachen, dachte sie und klemmte sie unter den Arm.
Zehn Minuten später lag sie wieder im Bett und lachte laut. Sie hatte sich das Feuilleton herausgesucht und las eine Theaterkritik, in der ein melodramatisches Stück mit dem Titel Die weiße Blume von Soho besprochen wurde. Der Verfasser hatte offenbar einen unerträglichen Abend im Theater verbracht und war darauf bedacht, seinem Ärger Luft zu machen. Das tat er allerdings auf derart amüsante Weise, dass die Lektüre jede Müdigkeit vertrieb.
Die Handlung dieses Machwerks ist so exotisch, dass es mir schwerfällt, sie in Worte zu kleiden; ich versuche es dennoch: Die weiße Blume von Soho, gespielt von Miss Lilian Bellecourt, ist ein Waisenmädchen, das von einem hawaiianischen Ukulele-Spieler und seiner englischen Frau aufgenommen wurde. Die Mischlingsschönheit wird schuldlos in schändliche Machenschaften verstrickt, die zum Tod der Pflegeeltern führen. (Anmerkung: Die Sterbeszene der Mutter rührte das Publikum zu nie gekannten Gefühlsausbrüchen, die sich höchstens mit dem Staatsbegräbnis von Admiral Nelson im Jahre 1806 vergleichen lassen.) Über das Ende des von Mr. Leonard Hester gespielten Vaters breite ich lieber den Mantel des Schweigens.
Was nun die Heldin angeht, würde ihre Darstellung einer jugendlichen, in Not geratenen Unschuld gewiss überzeugender wirken, wenn sich Lilian Bellecourt – man verzeihe mir diese Indiskretion – diesseits der fünfunddreißig befände.
In diesem Tonfall ging es weiter, und Charlotte musste sich beim Lesen mehrfach die Augen wischen. Der Artikel schloss mit den Worten:
Während Miss Bellecourt dem Geliebten auf der Bühne ihr Herz öffnete, wartete und hoffte der Verfasser nur darauf, dass sich die Pforten der Hölle auftun und die Dame mit Haut und Haar verschlingen würden.
Gezeichnet war die Rezension mit ThAsh .
14
Die folgende Woche verlief ruhig. Sir Andrew besuchte eine Parteiversammlung in London und übernachtete in seiner Stadtwohnung. So blieb Charlotte Zeit, Emily in aller Ruhe zu beobachten. Sie musste oft an den Traum denken, von dem das Mädchen erzählt und den sie aus dem Gedächtnis aufgeschrieben hatte.
Ich habe geträumt, ich wäre krank. Und mir war heiß. Mein ganzer Kopf war heiß. Und dann hat mich jemand ans Fenster getragen, und draußen war es ganz kalt. Der Wind wehte herein und hat mich abgekühlt. Das war schön. Ich hab mich umgesehen, wer mich trägt. Aber da war keiner. Ich war allein. In der Luft. Als könnte ich fliegen. Und dann bin ich gefallen und gefallen …
Dass Träume etwas über das Innenleben eines Menschen aussagen konnten, war ihr nicht neu, doch sie wusste nicht, wie sie Emilys Traum deuten sollte. Vielleicht verarbeitete das Mädchen auf diese Weise die dunkle Zeit, in der es so häufig krank gewesen war. Charlotte wusste noch immer nichts Genaues über Emilys frühere Leiden, die für ein so junges Kind sehr belastend gewesen sein mussten. Das Gefühl, von niemandem getragen zu werden und in die Tiefe zu stürzen, konnte für den Verlust der Mutter stehen, die ihr früher Schutz und Halt geboten hatte. Ja, das wäre durchaus plausibel. Doch etwas fügte sich nicht ins Bild.
Das offene Fenster – wer sollte ein krankes Kind dorthin tragen, wo ein kalter Wind wehte? Charlotte musste an die Nacht vor einigen Wochen denken, in der das Fenster offen gestanden hatte. Womöglich war Emily tatsächlich eine Schlafwandlerin, von denen es hieß, dass sie sich häufig in gefährliche Situationen begaben – auf Treppen, an offene Fenster, wenn nicht gar auf Dächer. Sollte der Traum nur eine unterschwellige Erinnerung an ihr nächtliches Umherstreifen sein?
Die Sache ließ Charlotte keine Ruhe, und so suchte sie eines Nachmittags Nora in ihrem Zimmer auf, nachdem sie Emily eine schriftliche Aufgabe gegeben hatte.
Das Kindermädchen schaute verwundert und dann ein wenig erschrocken drein, als Charlotte eintrat. Nora legte die Stickarbeit beiseite und stand auf, wobei sie sich unwillkürlich die Hände an der tadellos sauberen Schürze abwischte.
»Miss Pauly?« Ihre Stimme klang besorgt, als fürchtete sie, sie habe sich etwas zuschulden kommen lassen.
»Hättest du einen Augenblick Zeit für mich?«, fragte Charlotte höflich, worauf das Kindermädchen leicht errötete und auf einen Stuhl deutete.
Das Zimmer war schlicht, aber sauber, mit einigen Landschaftsbildern an den Wänden und einem kleinen Kreuz über
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