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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
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mich nicht in diesen Grübeleien verlieren.
    Sie versuchte zu lesen, doch ihre Gedanken wanderten immer wieder zu der Begegnung auf dem Friedhof. Lady Ellen hatte sich offenbar sehr um ihre Tochter gekümmert, mehr als die meisten Damen der Gesellschaft, sodass es sogar dieser einfachen Frau aus Dorking aufgefallen war. Wenn ihre Bindung so eng gewesen war, hatte Emily den Verlust nach so kurzer Zeit gewiss noch nicht überwunden. Hoffte ihr Vater, mit seinem Schweigen die Trauer zu vertreiben? Charlotte drehte sich mit ihren Überlegungen im Kreis, eine Antwort würde sie in dieser Nacht nicht mehr finden.
    Sie stand auf und begann, sich auszukleiden. Als sie sich aufs Bett setzte, um die Strümpfe abzustreifen, hielt sie in der Bewegung inne.
    Nora. Sie könnte die Antwort sein. Wenn Lady Ellen eine so fürsorgliche Mutter gewesen war, würde das Kindermädchen am meisten über die Beziehung der beiden wissen. Sie überlegte. Nora war ein schlichtes Mädchen, und auch wenn sie ihr zunächst feindselig begegnet war, würde Charlotte sie mit Freundlichkeit für sich gewinnen können. Mit diesem Gedanken legte sie sich beruhigt schlafen.
    Gegen vier wurde sie abrupt aus dem Schlaf gerissen. Jemand klopfte an ihre Tür. Sie sprang auf, lief hin und fragte: »Wer ist da?«
    Emilys Stimme klang so leise, dass Charlotte sie kaum verstehen konnte. Sie riss die Tür auf. »Komm rein!«
    Sie hüllte das Mädchen in eine Decke und führte es zum Bett, wo sie es sanft niederdrückte. »Was ist denn los?«
    Emily schaute sie mit weit aufgerissenen Augen an, sodass Charlotte schon glaubte, sie schlafwandle, genau wie in der Nacht, in der sie das offene Fenster vorgefunden hatte.
    Sie ergriff Emily sanft an den Schultern. »Bist du wach? Weißt du, wo du bist?«
    »In Ihrem Zimmer, Fräulein Pauly«, erwiderte das Mädchen verwundert. »Natürlich bin ich wach.«
    Charlotte atmete erleichtert auf. »Was ist denn passiert? Du zitterst ja.«
    Emily schloss die Augen und presste die Lippen aufeinander. »Ich habe geträumt.«
    »War es ein Albtraum?«
    Emily bewegte den Mund, als wollte sie sprechen, doch sie brachte kein Wort heraus. Hilflos zuckte sie mit den Schultern. »Es waren keine Ungeheuer dabei. Und kein totes Pferd.«
    »Gut. Was war es dann?«
    Sie goss Wasser aus dem Krug auf dem Waschtisch in ein Glas und brachte es Emily, die gierig trank. »Du kannst es mir ruhig erzählen.«
    Emily hielt ihr das Glas hin und schaute zu Boden. »Ich habe geträumt, ich wäre krank. Und mir war heiß. Mein ganzer Kopf war heiß. Und dann hat mich jemand ans Fenster getragen, und draußen war es ganz kalt. Der Wind wehte herein und hat mich abgekühlt. Das war schön.«
    »Und warum hast du dich gefürchtet?«
    Emily schauderte. »Ich hab mich umgesehen, wer mich trägt. Aber da war keiner. Ich war allein. In der Luft. Als könnte ich fliegen. Und dann bin ich gefallen und gefallen …«
    »… und aufgewacht?«
    »Ja.«
    »Das kenne ich, Emily. Ich habe auch schon geträumt, ich würde fallen, und wenn die Angst vor dem Aufprall am größten war, bin ich aufgewacht.«
    »Sie kennen das?«
    »Natürlich, es ist ganz normal.« Der übrige Traum war sonderbar, doch sie ging nicht weiter darauf ein, um das Mädchen nicht noch mehr zu verwirren. »Ich bringe dich jetzt ins Bett. Dann wird niemand merken, dass du aufgestanden bist, und niemand wird Fragen stellen.«
    Sie ahnte, dass es Emily lieber war, wenn ihr Vater nichts von dem nächtlichen Ausflug erfuhr.
    »Aber du kannst immer zu mir kommen, wenn du Angst hast. Einverstanden?«
    Emily nickte, stand auf und hielt Charlotte die Decke hin. »Danke schön, Fräulein Pauly.«
    Der Drang, »nenn mich Charlotte« zu sagen, war beinahe übermächtig, doch das verbot sich für eine Gouvernante. Sie ergriff Emilys kleine Hand und führte das Mädchen die Treppe hinunter und durch den dunklen Flur zurück in sein Zimmer. Sie deckte die Kleine gut zu und vergewisserte sich, dass Fenster und Vorhänge geschlossen waren. Dann sagte sie ihr Gute Nacht und kehrte in ihren Turm zurück.
    Dort zog sie das Heft unter der Matratze hervor und schrieb im Schein der Gaslampe auf, was Emily von ihrem Traum erzählt hatte.
    Danach konnte Charlotte nicht mehr einschlafen. Nachdem sie sich eine halbe Stunde im Bett gewälzt hatte, stand sie entnervt auf, zog den Morgenrock über und ging nach unten in die Küche, um sich ein Glas Milch zu holen. Dabei fiel ihr Blick auf die Sunday Times , die in einem Korb

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