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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
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erwiderte die alte Dame. »Kommen Sie mit.« Mit Hilfe des Stocks ging sie langsam weiter, und Charlotte passte sich ihren Schritten an. Schließlich blieb ihre Begleiterin stehen und deutete mit dem Stock auf einen schlichten weißen Stein.
    Im Gedenken an
    Ellen Clayworth
    185 8  – 1890
    Ein Stein wie jeder andere, dachte Charlotte ein wenig enttäuscht. Wenn er sich von den anderen unterschied, dann durch seine knappe Beschriftung. Auf den meisten Grabsteinen, die sie gesehen hatte, fand sich noch ein Bibelspruch oder ein anderes Zitat, manchmal auch die Erwähnung der Hinterbliebenen oder eine Wendung wie »Hier ruht in Frieden«.
    »Es ist sehr schlicht gehalten«, sagte Charlotte diplomatisch.
    Die alte Dame nickte. »Ja, das stimmt. Für meinen lieben Mann habe ich ›Der Herr ist mein Hirte‹ gewählt, er mochte diesen Psalm so gern. Ein sehr tröstlicher Spruch, wie ich finde.«
    Charlotte schaute sie von der Seite an. »Lady Ellen war noch so jung. Vielleicht wollte man nicht an ihren schmerzlichen Tod erinnern.«
    Sie spürte, wie die Frau neben ihr zögerte. Ihre Finger schlossen sich fest um den Gehstock und lösten sich dann wieder. Sie seufzte. »Eigentlich gehört es sich nicht, über solche Dinge zu sprechen. Die Toten sind tot und sollten ihre Ruhe haben.«
    Charlotte musste ihre Ungeduld zügeln. Sie spürte, dass die Frau etwas Besonderes wusste und kurz davor war, es ihr zu erzählen.
    »Ich kann Ihnen versichern, dass mein Interesse nur auf Anteilnahme beruht.«
    »Nun, Sie scheinen ein gutes Herz zu haben und werden vielleicht verstehen, was dieser Stein den Angehörigen bedeutet. Er ist … Wie soll ich es sagen? Er ist eine Art Denkmal, kein richtiger Grabstein.«
    »Wie meinen Sie das?«, fragte Charlotte verwirrt.
    »Es ist kein richtiges Grab. Hier liegt niemand begraben. Man hat Lady Ellens Leiche nie gefunden.«
    Charlotte spürte, wie ein Schauer sie überlief. Der Tag schien plötzlich dunkler zu werden, das Rauschen des Windes in den Bäumen klang wie ein bedrohliches Flüstern.
    »Frieren Sie, meine Liebe?«
    »Ich bin wohl nicht warm genug angezogen. Können Sie mir noch etwas darüber erzählen?«
    Natürlich war es riskant, wenn sie in Dorking Nachforschungen anstellte; in dieser Gegend kannte vermutlich jeder jeden, und Sir Andrew mochte schon bald davon erfahren. Doch wenn er sie im Dunkeln ließ, blieb ihr nichts anderes übrig, als selbst Auskünfte einzuholen.
    Die alte Dame deutete mit dem Stock auf eine Bank in der Nähe und lächelte entschuldigend. »Wenn Sie mich dorthin begleiten möchten – das Stehen fällt mir schwer.«
    »Selbstverständlich.«
    Charlotte half ihr beim Hinsetzen und nahm neben ihr Platz, wobei sie den Mantel enger um sich zog.
    »Es war im März. Ein nasser Monat, es hatte viel geregnet. Ich konnte tagelang nicht aus dem Haus gehen, ich hatte Angst, auszugleiten und zu stürzen. Das kann in meinem Alter tödlich sein. Der Mole war reißend in jenen Tagen. Meist fließt er ruhig und harmlos dahin, aber er kann sich rasch verwandeln. Dann sollte man sich vom Ufer fernhalten.«
    Charlotte schaute ihre Begleiterin von der Seite an. Sie hatte die Hände auf den Knauf des Stockes gestützt und schien in sich zu ruhen. Sie überlegte rasch, wie viel Geld sie bei sich hatte und ob sie sich notfalls eine Mietdroschke leisten konnte. Sie wollte die alte Frau nicht drängen, fürchtete sich aber davor, in der Dunkelheit zu Fuß nach Westhumble zurückzukehren.
    »Verzeihung, wenn ich mich in meinen Gedanken verliere, meine Liebe, das macht das Alter. Jedenfalls kam ich eines Morgens zum Bäcker, und die Leute waren ganz aufgeregt. Sie erzählten sich, dass die Frau von Sir Andrew Clayworth, dem Abgeordneten, verunglückt sei. Man habe ihren elfenbeinfarbenen Schal am Ufer des Mole gefunden.«
    »Wissen Sie, wo genau der Schal gefunden wurde?«, fragte Charlotte gespannt.
    »Lassen Sie mich überlegen. Ich glaube, es war hinter dem Wald, der Nicols Field genannt wird. Er grenzt an den Mole und gehört zum Anwesen von Norbury Park. Ein wunderbarer Wald.«
    Rechts liegen Nicols Field und Beechy Wood, und hinter dem Wald fließt der Mole. Eine hübsche Gegend, zu jeder Jahreszeit. Das hatte Wilkins auf jener ersten Fahrt nach Chalk Hill gesagt.
    »Grenzt der Wald an die Crabtree Lane?«
    Die alte Dame lächelte. »Ich sehe, Sie kennen sich schon in unserer Gegend aus, meine Liebe. Er beginnt unmittelbar hinter den Häusern. Dort hat Lady Ellen auch

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