Der verbotene Fluss
Natürlich hat sie oft nachts bei Emily gesessen, sodass ich nicht gemerkt hätte, wenn sie schlecht träumte, aber sie hat es nie erwähnt. Nein, es hat mit ihrem Tod begonnen, ganz sicher.«
»Wie oft kommt so etwas seither vor?«
Nora zuckte mit den Schultern. »Das ist unterschiedlich. Mal träumt sie zwei oder drei Wochen lang gar nicht, dann wieder mehrmals hintereinander.«
»Und wer kümmert sich dann um sie?«
»Wenn ich sie höre, gehe ich zu ihr.« Mehr sagte Nora nicht, doch Charlotte wusste die Worte zu deuten. Wenn sie das Mädchen nicht hörte, war Emily sich selbst und ihren Ängsten überlassen. Oder suchte den Trost ihrer Gouvernante.
»Träumt sie immer von ihrer Mutter?«
Nora presste die Lippen aufeinander, als wollte sie sich am Sprechen hindern.
»Bitte, ich mache mir Sorgen um Emily. Vielleicht schlafwandelt sie sogar, das kann gefährlich sein.«
Das Kindermädchen schien mit sich zu ringen und sagte dann leise: »Manchmal weiß sie nicht mehr, was sie geträumt hat. Oder sie erzählt, jemand sei in ihr Zimmer gekommen. Jemand, den sie nicht erkennen konnte. Aber es passiert auch, dass sie von ihrer Mutter träumt. Einmal«, sie schaute zur Tür, als befürchtete sie, belauscht zu werden, »einmal, das war im Sommer, hat sie nachts so laut geschrien, dass ich sie gehört habe. Ich bin in ihr Zimmer gelaufen, und sie sagte, sie hätte ihre Mutter gesehen. Der Mond schien sehr hell, und sie ist mit mir ans Fenster gegangen und hat mir eine Stelle hinten im Garten zwischen den Bäumen gezeigt. Dort hätte sie gestanden. Emily war ganz und gar davon überzeugt. Sie träumt wirklich lebhaft.«
»Da gebe ich dir recht. Sie ist ein fantasievolles Mädchen.«
Charlotte schaute nachdenklich hinaus auf die dunklen Bäume, deren kahle Äste sich wie Scherenschnitte vor dem Himmel abzeichneten. Sie hatte den Garten bislang noch nicht erkundet, würde es aber mit Emily nachholen. Dann würde sie auch keinen Verdacht bei den Dienstboten erregen und könnte sich unauffällig umsehen.
»Ich bin dir sehr dankbar für deine Offenheit«, sagte sie in warmem Ton.
»Schon gut, wenn Sie es nur nicht Sir Andrew erzählen … Und auch sonst niemandem«, entgegnete das Kindermädchen besorgt. Die Angst, den Arbeitgeber zu verärgern und deshalb die Stelle zu verlieren, schien tief zu sitzen.
»Das mache ich nicht.« Charlotte überlegte kurz. »Wenn dir noch etwas einfällt, was wichtig sein könnte, dann sag es mir bitte. Im Übrigen fände ich es schön, wenn du Emily weiterhin jeden Abend die Haare bürsten könntest. Für sie ist es ein Trost, und ihr könnt ein wenig beisammen sein.«
Noras dankbarer Blick traf sie wie ein Stich. »Danke, Miss, das ist sehr freundlich von Ihnen.«
Charlotte wandte sich zur Tür. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie kalt es im Zimmer war. Sie warf einen Blick auf den winzigen Kamin, in dem kein Feuer brannte, und schaute auf Noras Hände, die rot und blau marmoriert aussahen. »Du brauchst Kaminholz. Ich sage Susan Bescheid.«
Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer und begab sich zurück ins Schulzimmer, wo Emily mit gefalteten Händen vor ihrem Heft saß und sie verwundert anschaute.
»Tut mir leid, es hat etwas länger gedauert«, sagte Charlotte und setzte sich mit dem Heft an ihren Tisch. Dann las sie den kurzen Aufsatz, den das Mädchen verfasst hatte. Sie sollte in einfachen deutschen Sätzen ihren Tagesablauf schildern und hatte es gar nicht schlecht gemacht.
»Das sieht recht gut aus, Emily. Komm einmal her.« Das Mädchen trat neben sie, und sie gingen gemeinsam die Sätze durch, wobei Charlotte das Kind auf die Fehler aufmerksam machte und die gelungenen Stellen mit grüner Tinte markierte.
»Deutsch ist ziemlich schwer«, sagte Emily zaghaft.
»Da hast du recht«, bestätigte Charlotte lachend. »Nur fällt es nicht so auf, wenn man die Sprache als Kind gelernt hat.«
»Sie können aber auch sehr gut Englisch.«
»Nicht so gut wie du«, entgegnete Charlotte. »Meinen Akzent hört man immer heraus. Ich weiß nicht, ob ich je als Engländerin durchgehen werde.« Sie klappte das Heft zu und gab es Emily zurück. »Wenn morgen gutes Wetter ist, könntest du mir einmal euren Garten zeigen. Ich habe ihn bisher immer nur vom Fenster aus gesehen und würde gern darin spazieren gehen.«
Emily nickte eifrig. »Das mache ich. Es gibt ein kleines Gewächshaus, in dem Papa tropische Pflanzen züchtet. Er versucht es jedenfalls. Manche gehen auch ein, wenn es
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