Der verbotene Fluss
dem Bett.
Charlotte setzte sich und überlegte, wie sie am besten beginnen sollte. Dann berichtete sie von dem Vorfall in der Nacht zum Montag, worauf Nora blass wurde.
»Ich … Ich hätte mich darum gekümmert, Miss Pauly, aber ich darf ja nicht mehr …« Sie schlug die Hand vor den Mund, als wollte sie die Worte zurücknehmen.
»Du schläfst nicht mehr im Zimmer nebenan, ich weiß. Und dich trifft auch keine Schuld«, sagte Charlotte beschwichtigend. »Ich bin nicht gekommen, um dir Vorwürfe zu machen, sondern um dich etwas zu fragen.«
»Ja, bitte?«
»Ich möchte gern mehr über Emilys frühere Krankheiten wissen, damit ich ermessen kann, ob sich ihr Zustand wieder verschlechtert hat.«
Nora schaute auf ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hielt. »Es … Es waren verschiedene Sachen, unter denen sie gelitten hat. Erkältungen, Fieber, Husten, einmal sogar eine Lungenentzündung – daran wäre sie fast gestorben. Bauchschmerzen, Erbrechen. Solche Dinge eben. Kinder werden oft krank.«
»Aber bei ihr scheint es ungewöhnlich häufig vorgekommen zu sein.«
Nora schwieg. Charlotte spürte, wie empfindlich das Kindermädchen auf alles reagierte, es gleich als Vorwurf auffasste. Also musste sie noch behutsamer vorgehen.
»Hast du sie gepflegt, während sie krank war? Wenn ja, bin ich mir sicher, du hast es sehr gut gemacht.«
»Ich habe sie nicht allein gepflegt.«
»Wurde eine Krankenschwester dafür eingestellt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Lady Ellen hat sich um ihre Tochter gekümmert. Ich weiß, das ist ungewöhnlich, aber …« Sie zuckte mit den Schultern.
»Ich versichere dir, dass ich alles, was du mir sagst, vertraulich behandeln werde. Von mir erfährt niemand, was du mir über Lady Ellen erzählst. Wir wollen doch beide das Beste für Emily.«
Die junge Frau schien sich ein wenig zu entspannen. Ihre Schultern sanken leicht herab, die verschlungenen Hände lösten sich.
»Sie hat sich immer um Emily gekümmert. Ist nachts aufgestanden, wenn sie krank war, oder hat sogar im Sessel neben ihrem Bett geschlafen.« Nora schluckte. »Ich habe noch nie eine so liebevolle Mutter erlebt.«
Charlotte atmete tief durch. Sie erinnerte sich an die Worte der alten Frau, der sie auf dem Friedhof begegnet war. Viele elegante Damen kümmern sich nicht selbst um ihre Kinder, aber sie fuhr manchmal mit dem Mädchen im Wagen aus.
Das deckte sich mit Noras Aussage. Es war ganz und gar außergewöhnlich und ließ vermuten, dass die Beziehung zwischen Mutter und Kind enger und liebevoller gewesen sein musste, als es in diesen Kreisen üblich war. Was hatte Lady Ellen dazu gebracht, gegen die Konventionen zu verstoßen, und wie hatten die Menschen in ihrer Umgebung darüber gedacht? Hatte Sir Andrew seine Frau darin unterstützt, oder war es ihm peinlich gewesen, dass sie Aufgaben wahrnahm, für die es doch bezahlte Angestellte gab? So kühl, wie Charlotte ihn erlebt hatte, wollte sie das nicht ausschließen, doch konnte seine Kälte ebenso eine Fassade sein, hinter der er seine Trauer vor der Welt verbarg.
»Das ist interessant, Nora. Hast du dich gut mit Lady Ellen verstanden?«
Sie nickte eifrig. »O ja, sie war immer sehr freundlich. Manchmal hat sie mir Haarbänder oder Kämme geschenkt, die sie nicht mehr brauchte.«
Es gab so viele Fragen, die Charlotte gern gestellt hätte: ob Lady Ellen eine glückliche Frau gewesen war und ob sie und Sir Andrew eine gute Ehe geführt hatten. Was sie dazu verleitet haben mochte, in jener Märznacht an den Fluss zu gehen und sich … Doch damit hätte sie Noras Misstrauen geweckt, und sie brauchte sie auf ihrer Seite.
»Das war sehr nett von ihr, Nora. Sicher war es ein furchtbarer Schock für alle, als sie gestorben ist.«
Nora schluckte. »Ja, Miss. Sir Andrew war wie von Sinnen. Er – er wollte es nicht glauben, hat wieder und wieder Leute auf die Suche geschickt, auch als keine Hoffnung mehr bestand. Wir haben natürlich versucht, es vor Miss Emily zu verbergen, aber sie hat einiges mitbekommen. Es ließ sich nicht vermeiden.«
Charlotte hatte in kurzer Zeit viel erfahren und konnte sich doch des Gefühls nicht erwehren, dass Nora ihr nicht alles erzählte. Dennoch musste sie mit dem, was sie erreicht hatte, vorerst zufrieden sein.
»Eines möchte ich dich noch fragen: Hat Emily schon früher unter Albträumen gelitten oder erst, seit ihre Mutter gestorben ist?«
Die Antwort ließ nicht auf sich warten. »Erst seit Lady Ellens Tod.
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