Der verbotene Fluss
flößte ihr Vertrauen ein. Also schlug sie jede Vorsicht in den Wind.
»Mir macht noch etwas anderes Sorgen, Mrs. Morton. Emily träumt schlecht. Ich fürchte auch, dass sie schlafwandelt. Sie versteht es, ihren Kummer tagsüber zu verbergen, doch nachts ist sie ihm schutzlos ausgeliefert.« Charlotte erzählte von dem seltsamen Traum, in dem jemand sie ans offene Fenster getragen hatte. »Ich befürchte, sie unterdrückt ihre Gefühle so sehr, dass es irgendwann zu einem Ausbruch kommt, dessen Folgen für mich unabsehbar sind.«
Mrs. Morton blickte abrupt auf. »Ein Ausbruch? Ist das nicht ein wenig übertrieben?«
»Ich glaube nicht. Sie könnte körperlich krank werden oder einen seelischen Zusammenbruch erleiden. Das geschieht, wenn Menschen ihre Trauer und ihre Ängste tief in sich vergraben. Sicher ist Ihnen das nicht fremd. Sie und Ihr Mann kennen doch die Nöte der Menschen.«
Mrs. Morton schenkte ihnen Tee nach. »Ich verstehe Ihre Sorge um Emily, weiß aber nicht, wie ich Ihnen helfen kann.«
»Indem Sie mir etwas über sie und ihre Mutter erzählen.« Charlotte presste die Lippen aufeinander, als wollte sie sich daran hindern, die gewagte Bitte zurückzunehmen. »Sie würden nicht gegen Sir Andrews Willen verstoßen«, fügte sie rasch hinzu. »Wir sprechen schließlich weder in seiner noch Emilys Gegenwart darüber, und ich werde alles vertraulich behandeln.«
Sie wusste, dass sie sich weit vorwagte; im schlimmsten Fall würden die Mortons Sir Andrew von ihren Erkundigungen berichten. Es erforderte nicht viel Fantasie, sich die Konsequenzen auszumalen.
Doch Charlottes Kühnheit wurde belohnt. Mrs. Morton strich ihren Rock glatt und blickte sie freundlich an.
»Wir sind noch nicht so lange in der Gegend, wie Sie wissen, doch wenn ich Ihre Fragen beantworten kann, werde ich das gern tun. Ich habe im Laufe der Zeit das eine oder andere über die Familie erfahren.«
Charlotte atmete erleichtert auf. »Emily war früher oft krank?«
Mrs. Morton nickte. »Ja, die ganze Nachbarschaft war um das Mädchen besorgt. Alle hatten Mitleid mit den Eltern, weil das einzige Kind so kränklich war.«
»Man hat mir erzählt, Lady Ellen sei eine ungewöhnliche Mutter gewesen«, fuhr Charlotte fort. »Sie habe sich viel mit Emily beschäftigt und sie selbst gepflegt, obwohl es im Haus ein Kindermädchen gibt. Haben Sie das auch so empfunden?«
»In der Tat, für eine Dame ihrer Stellung war das ungewöhnlich. Wie man mir erzählte, blieb sie sogar zu Hause, wenn Sir Andrew in London zu gesellschaftlichen Anlässen eingeladen wurde, und begleitete ihn fast nie auf seinen Reisen. Es heißt, dass Mutter und Tochter einander sehr nahestanden, was ich sehr begrüße. Verzeihen Sie meine Offenheit, aber ich habe meine Kinder selbst aufgezogen und die Stunden, die ich mit ihnen verbringen konnte, sehr genossen. Damit will ich keinesfalls Ihren Berufsstand herabsetzen, Miss Pauly …«
Charlotte lachte. »Keine Sorge, die Wahrheit kränkt mich nicht. So manches Mal habe ich die Kinder bedauert, die ihre Eltern nur am Abend sahen, wenn sie frisch gewaschen und gebürstet präsentiert und danach zu Bett gebracht wurden. Ein Mädchen, das ich unterrichtete, traf seine Mutter eines Tages unverhofft im Nachthemd und unfrisiert an und erkannte sie nicht.«
Mrs. Morton war schockiert. »Im Ernst? Sie meinen, die Kleine kannte ihre Mutter nur in feiner Garderobe?«
»So ist es.« Charlotte zuckte mit den Schultern. »Daher beeindruckt mich umso mehr, dass Lady Ellen es anscheinend anders gehalten hat.« In dem Moment fiel ihr die Begegnung auf dem Friedhof ein, und sie berichtete Mrs. Morton davon.
Diese wiegte ernst den Kopf. »Es ist furchtbar, wenn Menschen nicht richtig Abschied nehmen können. Mein Mann und ich haben die Erfahrung gemacht, dass Angehörige in solchen Fällen besonders leiden. Das kommt vor, wenn Menschen auf See sterben oder weit entfernt in den Kolonien, sodass man sie nicht in der Heimat begraben kann. Dann fehlt ein Ort, den sie besuchen und an dem sie trauern können.«
»Aber es wurde ein Grab angelegt.«
Die Pfarrersfrau nickte. »Gewiss. Vielleicht wünschte Sir Andrew sich einen Platz, der seiner toten Frau gewidmet ist.«
Charlotte hatte noch eine letzte Frage, fürchtete jedoch, den Bogen zu überspannen. »Man sagte mir, der Mole habe zu jener Zeit viel Wasser geführt und sei reißend gewesen. Lady Ellen musste also die Gefahr gekannt haben.«
»Das ist richtig.« Mrs. Morton war rot
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