Der verbotene Fluss
sie verwundert zurück. Natürlich hatte sie damit gerechnet, dass er sie tadeln, vielleicht sogar aus seinen Diensten entlassen würde, nachdem er von den Ereignissen in Berlin erfahren hatte – stattdessen zeigte er Verständnis und hatte sich sogar ein Lächeln gestattet.
»Wie trinken Sie Ihren Tee, Miss Pauly?« Mrs. Mortons freundliche Stimme riss Charlotte aus ihren Gedanken.
»Verzeihung.« Die Pfarrersfrau stand mit der Kanne neben dem Tisch und schenkte ihr ein.
»Ich nehme ihn so, wie man ihn in England trinkt. Mit Milch und Zucker.«
Auf dem Tisch standen ein Früchtekuchen und scones mit Rahm und Erdbeermarmelade, die Emily sehnsüchtig anschaute. Der schicksalhafte Besuch in der Teestube schien ihr den Appetit auf das Gebäck nicht verdorben zu haben.
Das Zimmer war warm und behaglich eingerichtet. An den Wänden hingen gestickte Bilder mit englischen Landschaftsmotiven, die große Kunstfertigkeit verrieten, aber Charlotte entdeckte auch Andenken, die die Mortons vermutlich aus Indien mitgebracht hatten und die dem Raum einen Hauch von Exotik verliehen: einen vielfarbigen Fächer, einen bemalten Holzelefanten, einen kleinen sternförmigen Tisch mit wunderbaren Einlegearbeiten.
Mr. Morton hatte sich bereits verabschiedet, da er einige Krankenbesuche zu erledigen hatte, hatte Emily aber versprochen, sie dürfe vor der Abfahrt noch einmal die Kaninchen streicheln.
Sie unterhielten sich über Emilys Fortschritte im Unterricht, und Charlotte berichtete, dass sie sich bereits in der Gegend umgesehen hatte.
»Im Frühjahr wird es noch schöner«, sagte Mrs. Morton. »Wenn auf Box Hill die Blumen blühen, kann man dort wunderbar spazieren gehen. Kennen Sie Emma von Jane Austen? Darin gibt es eine berühmte Szene, die ein Picknick auf dem Hügel beschreibt.«
Charlotte schüttelte den Kopf. »Ich hatte nur Gelegenheit, Pride and Prejudice zu lesen. Dieser Roman hat mir sehr gut gefallen.«
»Leider wird sie in England kaum noch gelesen. Ich habe Miss Austens Romane immer sehr geschätzt. Sie wären auch als Lektüre für Emily geeignet, wenn sie etwas älter ist. Ich kann Ihnen gern meine Ausgabe von Emma leihen.«
»Vielen Dank, das würde mich freuen.«
Als sie so vertraulich zu dritt beisammensaßen, stieg plötzlich eine Erinnerung in Charlotte auf, und sie fragte ihre Gastgeberin: »Kennen Sie einen Reverend Horsley? Ich bin dem Herrn auf der Fahrt von Dover nach Dorking im Zug begegnet, und wir sind ins Gespräch gekommen.«
Die freundliche Pfarrersfrau nickte. »Ja, er war der Vorgänger meines Mannes hier in Mickleham. Er hat eine Pfarre in der Nähe von London übernommen.«
Charlotte warf einen flüchtigen Blick auf Emily. »Bist du fertig mit deinem Tee? Dann kannst du noch einmal zu den Kaninchen gehen. Ich möchte nicht zu spät nach Hause fahren.«
Emily tupfte sich wohlerzogen den Mund mit der Serviette ab, knickste vor Mrs. Morton und eilte rasch aus dem Zimmer, während ihr die Frauen lächelnd nachsahen.
Charlotte räusperte sich. »Als Mr. Horsley hörte, dass mein Ziel Chalk Hill war, wurde er auf einmal einsilbig. Das erschien mir sonderbar, da er zuvor sehr gesprächig und entgegenkommend gewesen war. Er erwähnte nur, er habe Lady Ellen früher gekannt.«
Mrs. Morton stellte ihre Teetasse ab und lehnte sich zurück, wobei sie die Hände vor sich auf dem Tisch faltete. »Miss Pauly«, sagte sie zögernd, »Sie begeben sich auf gefährliches Terrain, wenn ich das sagen darf.«
Damit hatte Charlotte nicht gerechnet. »Warum?«
»Weil Lady Ellens Tod in ihrer Familie ein tiefe Wunde hinterlassen hat.«
»Das kann ich verstehen. Wenn man die Ehefrau und Mutter auf so tragische Weise verliert, ist diese Trauer nur zu natürlich. Aber ich mache mir Sorgen um Emily. Sie wagt kaum, den Namen ihrer Mutter auszusprechen. Das kann nicht gut für sie sein.«
Mrs. Morton seufzte. »Meine Liebe, Sie haben mit Emilys Erziehung eine schwierige Aufgabe übernommen. Sie ist ein reizendes, intelligentes Mädchen, aber die Vergangenheit liegt wie ein Schatten über der Familie. Sir Andrew kommt anscheinend nicht über den Verlust seiner Frau hinweg.« Sie zögerte. »Er spricht mit niemandem über sie. Das Verbot gilt also nicht nur für seinen eigenen Haushalt, sondern für alle Menschen, mit denen er Umgang pflegt.«
Charlotte dachte nach. Hier war endlich jemand, bei dem sie keine Hemmungen hatte, ihre Gedanken zu offenbaren. Gewiss, sie kannte Mrs. Morton kaum, aber die Pfarrersfrau
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