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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
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Geisterjägern, hatte er sich wohl gefühlt und die Sache von einem rein intellektuellen Standpunkt betrachten können.
    Nun aber war er mit sich allein, und die Fragen kehrten wieder. War etwas von Lucy zurückgeblieben, als sie starb? Oder hatte sich ihr ganzes Wesen zusammen mit ihrem Körper aufgelöst, wie es jene glaubten, für die die Welt rein materiell und restlos erklärbar war?
    Ein Schauer überlief ihn, und er zog seinen Mantel enger um sich.
    Vielleicht gab es keine Geister und damit auch niemanden, der Leonora Piper dieses Wissen einflüsterte. Dann aber musste es eine Fähigkeit geben, einen zusätzlichen Sinn, den nicht alle Menschen besaßen und der es ihr ermöglichte, mit ihrem Geist die Grenzen von Zeit und Raum zu überwinden.

16
    Oktober 1890, Mickleham
    »Die sind so niedlich«, sagte Charlotte, während Emily andächtig vor der offenen Stalltür stand und ein schwarz-weiß geflecktes Kaninchen in den Armen hielt. Behutsam strich sie über das seidenweiche Fell und warf dabei einen Blick in den Stall, in dem sich einige Jungtiere um ihre Mutter drängten. Alles roch wunderbar süß nach frischem Heu.
    Reverend Morton lächelte, schloss die Stalltür und bedeutete Charlotte, mit ihm beiseitezutreten.
    »Mit Kindern ist es nicht ganz einfach«, sagte er leise. »Wir halten die Tiere natürlich nicht nur zum Streicheln.«
    »Ich verstehe. Am besten sollte Emily ihr Herz nicht an ein bestimmtes Tier hängen, sonst …« Sie warf einen Blick zu dem Mädchen, das ganz versunken dastand und das Gesicht zwischen den langen Ohren des Tieres vergraben hatte.
    »Sie hat bereits einen schweren Verlust erlitten, meinen Sie.«
    »In der Tat, Mr. Morton.«
    Der Geistliche zögerte. »Ich habe schon überlegt, ob ich ihr ein Jungtier schenken soll. Sie sind zwar nicht gern allein, werden aber zutraulicher, wenn sie ohne Artgenossen gehalten werden.«
    Charlotte überlegte. »Vielleicht wäre es gut, wenn Emily lernt, Verantwortung für ein Lebewesen zu übernehmen.«
    »Und dass man immer wieder Abschied nehmen muss.«
    Sie sah den Reverend überrascht an. »Glauben Sie, dass man sich darauf wirklich vorbereiten kann?«
    »Ja, das glaube ich durchaus. Als Pfarrer begegne ich häufig dem Tod und muss Menschen trösten, die Angehörige verloren haben. Ich versuche, Kraft daraus zu schöpfen und mich an das Wissen zu gewöhnen, dass alles hier auf Erden endlich ist.«
    Charlotte war nicht überzeugt. »Ich glaube nicht, dass man in jedem Moment darauf gefasst sein kann. Und wenn es so wäre, würde es uns dann nicht die Lebensfreude rauben? Kann ich einem Mädchen ein Kaninchen schenken, damit es sich an den Gedanken gewöhnt, dass das Tier eines Tages sterben wird? Ist das nicht grausam?«
    Mr. Morton wiegte den Kopf. »Nicht unbedingt. Man könnte auch behaupten, dass man Dinge mehr genießt, gerade weil sie nicht ewig währen. Stellen Sie sich vor, wir hätten immer schönes Wetter. Würden Sie sich dann noch jeden Morgen am blauen Himmel und dem Spiel der Sonnenstrahlen im grünen Laub erfreuen? Wäre dieser Genuss selbstverständlich geworden, könnte er Ihr Herz nicht mehr erheben.«
    Zum Glück rief man sie in diesem Augenblick zum Tee, denn Charlotte fand, dass sein Vergleich hinkte, und hätte vermutlich noch länger mit ihm diskutiert.
    Emily war ganz aufgeregt gewesen, als sie beim Frühstück erfuhr, dass sie später zu den Kaninchen fahren würden, und Charlotte war insgeheim erleichtert, da sie den ganzen Morgen über nicht bei der Sache gewesen war, was Emily vermutlich gemerkt hatte. Das Mädchen hatte mehrfach zu ihr herübergeschaut, wenn sie in Gedanken versunken dasaß, und sich geräuspert, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
    In der Nacht hatte Charlotte kaum geschlafen, so sehr hatte die Unterredung mit Sir Andrew sie aufgewühlt. Tausend Bilder drangen auf sie ein, Erinnerungen an Berlin, Friedrichs Gesicht, das Getuschel der Leute, die im Hause der von Benkows verkehrten. Sie hatte die Enttäuschung, die sie überwunden geglaubt hatte, wie einen bitteren Geschmack im Mund gespürt.
    Dabei liebe ich Friedrich nicht, hatte sie gedacht, habe ihn womöglich nie geliebt. Ich habe seinen Charme geliebt, die Aufmerksamkeit, die er mir entgegenbrachte. Die Vorstellung von Liebe. Sonst nichts.
    Moralisch einwandfrei, wenn auch nicht gerade mutig. Mit wenigen Worten war es Sir Andrew wieder einmal gelungen, sie zu überraschen. Sobald sie glaubte, ihn zu kennen, schlug er einen Haken und ließ

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